Vom Antirevisionismus zum Zeitgeist-Fatalismus: Prof. Fred Müllers ‘Probleme mit dem Sozialismus'

A. Holberg

Interbrigadist, DDR-Funktionär, PDS- und jetzt DKP-Mitglied Prof. Dr. Fred Müller hat in der von der ‘Kommunistischen Plattform' der PDS-Hannover herausgegebenen Zeitschrift ‘Offensiv' ein Sozialismusbekenntnis abgelegt. Es ist weniger deshalb lohnend, sich damit zu beschäftigen, und zwar weniger, weil hier irgendwelche an und für sich neue Einsichten vermittelt und Ansichten dargelegt würden. Vielmehr ist davon auszugehen ist, daß Prof. Müller die Befindlichkeit eines politisch-kulturellen Milieus zum Ausdruck bringt, das zwar weitgehend historisches Relikt ist, aber angesichts der Marginalität der sich als marxistisch verstehenden Linken in der BRD in diesem Umkreis nicht zu übersehen ist.

Vorweg sei gesagt, daß es nicht ganz einfach ist, sich mit seinen 44 Seiten langen Darlegungen auseinanderzusetzen, weil sie doch teilweise redundant und vor allem unsystematisch geschrieben ist. Eine andere Schwierigkeit ist vielleicht noch größer. Ich glaube nicht, daß F. Müller sich selbst dessen voll bewußt ist, was er schreibt. So wird er sich in der nachfolgenden harschen Kritik sicher im wesentlichen nicht wiedererkennen. Interessant ist vor allem der Widerspruch zwischen einem stark emotional geprägten ‘Antirevisionismus' einerseits, wie er sich in solchen Begriffen wie dem vom "charakterlosen Renegaten" und "politischen Prostituierten" Gorbatschow oder dem zwar schlappen aber dennoch erfreuenden Witzes über den PDS-Euro Abgeordneten namens "Käse" (d.i. M. Brie) niederschlägt, und andererseits dem eigenen vollends revisionistischen Zurückweichen vor dem ‘Zeitgeist'.

Der Untertitel der Broschüre lautet ‘Beiträge zur Geschichte des Sozialismus', und sinnvoller Weise untersucht Fred Müller die Probleme des Sozialismus auf dem Hintergrund der historischen Erfahrungen mit dem sogenannten "realen Sozialismus", an dessen Gestaltung er ja nicht unmaßgeblich Anteil hatte.

Zunächst leitet F.Müller die Notwendigkeit der Abschaffung des Kapitalismus aus den immensen Zerstörungen ab, die dieser inzwischen sogar an den Grundlagen des menschlichen Überlebens anrichtet, und bezieht sich richtigerweise auf die Oktoberrevolution von 1917 als zentrales Ereignis des Kampfes gegen dieses Untergangssystem. Sodann widmet er sich der Frage, wie das Scheitern des Sozialismus zu erklären sei. Hier jedoch verwickelt er sich umgehend in fatale theoretische und politische Widersprüche.

Gegen die These, daß der Zusammenbruch des ‘realen Sozialismus' primär durch die Fehler oder gar den Verrat der eigenen Führer -- beginnend vor allem mit Stalin -- bedingt sei, verweist Müller auf die materiellen Triebkräfte der Geschichte. Er schließt sich -- wohl bemerkenswert für einen ‘Kommunisten', der erst 1932 in die zu diesem Zeitpunkt bereits durchstalinisierte KPD eingetreten ist -- der in solchen Kreisen zumindest bis vor 10 Jahren im allgemeinen mit dem ‘Antichristen' Leo Trotzki verbundenen These an, daß der schließlich erfolgreiche Aufbau des Sozialismus in einem Land (oder einer Minderheit von Ländern) nicht möglich sei. Dabei entdeckt er, daß das gar keine ‘trotzkistische' These ist, sondern eine originär leninistische. Er schreibt: "Wenn eine real existierende sozialistische Gesellschaft nicht mehr die wirtschaftliche Potenz besitzt, um im internationalen Kräfteverhältnis die erforderliche politische und militärische Unabhängigkeit zu garantieren, ist sie dem Niedergang und der schließlichen Niederlage ausgesetzt." Sieht man nun einmal von dem allerdings wichtigen Punkt ab, daß er fälschlicherweise die ‘Diktatur des Proletariats' (Arbeiterstaat), die eine Übergangsgesellschaft zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus ist, mit diesem, der jedoch bereits die untere Stufe des Kommunismus ist, gleichsetzt, ist der zitierte Satz nicht falsch. F.Müller neigt jedoch dazu, solche zweifellos wichtigen Faktoren wie die immensen Zerstörungen in der UdSSR durch den 2. Weltkrieg und der Behinderung des Wiederaufbaus durch die militärische Bedrohung durch den Imperialismus -- vor allem den amerikanischen -- ein zu großes relatives Gewicht beizumessen. Ebensowenig wie die ökonomische Abhängigkeit vom westlichen Imperialismus -- die krassesten Beispiele waren Polen, Ungarn und Jugoslawien -- ein Fortschreiten zum Sozialismus hin ermöglicht, würde das auch eine ökonomische Strategie der Autarkie tun. Das Ganze der Weltwirtschaft ist nicht als Summe der nationalen Wirtschaften zu erklären, sondern diese umgekehrt als untergeordnete Teile einer globalen Struktur. Das begründet die Unmöglichkeit des ‘Sozialismus in einem Land' sehr viel prinzipieller als das militärische Kräfteverhältnis. Mit anderen Worten: F.M. hält die mehrfach von ihm betonte Zurückweisung der Stalin-Bukharin'schen Erfindung des ‘Sozialismus in einem Land' nicht konsequent durch.

Wenn F.Müller nun ungeachtet seines unzureichenden Verständnisses der Notwendigkeit der Weltrevolution die subjektiven Faktoren zwar nicht alle verschweigt aber niedrig bewertet, könnte man geneigt sein anzunehmen, daß diese Tatsache auf das Feuer des Neubekehrten zurückzuführen sei. Mir scheint jedoch, daß er die ihm neue Erkenntnis zur historischen Entschuldigung der als ‘Stalinismus' bekannten Herrschaft der Bürokratie über die Arbeiterklasse benutzt.

Zwar gibt er wie gesagt einerseits eine Reihe Fehler und gar Verbrechen der stalinistischen Führung zu. Aber mehr noch, als daß er eine Reihe davon mit den Umständen rechtfertigt, betont er, daß diese Fehler für das beschämende Schicksal der ‘Realsozialismus' nicht besonders relevant gewesen seien. Das ist eine fatalistische und somit unmarxistische Sichtweise, denn sie schließt die Möglichkeit aus, dem primären Faktor des Zusammenbruchs, die Tatsache des Ausbleibens der internationalen Revolution, durch eine andere Politik ausschlaggebend zu beeinflussen. In der Tat weist diese Position die Lenin'sche Theorie des Imperialismus als der Epoche des verfaulenden niedergehenden Kapitalismus und damit als der Epoche, in der angesichts der Existenz einer zahlreichen Arbeiterklasse weltweit die sozialistische Revolution historisch auf der Tagesordnung steht, implizit zurück. Die Frage etwa, ob der Hitler-Stalin-Pakt der revolutionären kommunistischen Bewegung und damit der Zukunft der UdSSR trotz seines -- auch umstrittenen -- kurzfristigen militärstrategischen Vorteils auch für die UdSSR nicht doch eher geschadet hat, oder ob die gewalttätige Einfrierung des spanischen Revolution in ihren bürgerlichen ‘antifaschistischen' Rahmen ihr ungeachtet eines möglichen abermals militärstrategischen Nutzens nicht eher sozusagen den Lebensnerv gezogen hat, stellt Fred Müller dementsprechend erst gar nicht ernsthaft.

Um zu meiner Behauptung zurückzukommen, F.Müller verteidige die Herrschaft der Bürokratie, so beruht diese keineswegs nur auf der Feststellung seines fatalistischen Ansatzes.

In der Tat kommt die Arbeiterklasse, deren Selbsbefreiung der Sozialismus und der eigentliche Zweck des Marxismus ist, bei Prof. Müller in zweifacher Hinsicht überhaupt schlecht weg.

In Hinblick auf Deutschland und also die SBZ/DDR stellt er fest, daß nach dem Krieg die Mehrheit der Bevölkerung noch unter dem Einfluß der Naziideologie gestanden habe. Wenn dem denn so war, ist es nicht verwunderlich, daß nicht einmal F.Müller die DDR als Ergebnis einer Revolution der Arbeiterklasse sieht. Der angeblich reale Sozialismus in der DDR (und den übrigen Staaten, die sich mit diesem Namen zu schmücken beliebten) wurde also von der Roten Armee im Zuge ihres Kampfes gegen eine Spielart der imperialistischen Herrschaft dorthin exportiert. Deren politische Führung um Stalin hatte jedoch zuvor wie der Autor immerhin erwähnt beispielsweise praktisch die gesamte Führung der Oktoberrevolution ausgerottet und der realen Arbeiterklasse in der UdSSR alle realen Möglichkeiten der eigenen Herrschaft entrissen. In den von der Roten Armee vom Faschismus befreiten Ländern durften sich dann unter Führung bewährter Anhänger der Stalin'schen Bürokratie eine Vielzahl sicher größtenteils wohlmeinender, enthusiastischer und fortschrittlicher Menschen am Aufbau der neuen Staaten beteiligen. Arbeiterstaaten im marxistischen Sinn sind sie aber alle angesichts der Abwesenheit jeder proletarischen Revolution nie gewesen und konnten folglich erst recht keine sozialistischen werden. F.Müller und den Anhängern seiner Denkschule fallen derartige Widersprüche jedoch nicht auf, weil sie für sie keine Probleme sind, heißt doch Sozialismus bei ihnen nicht primär Arbeitermacht, sondern Verstaatlichung und bestenfalls Wohlfahrtsmaßnahmen für die Arbeiterklasse.

Zu dieser Einschätzung steht nun aber F.Müllers Satz "Aber der Sozialismus ist eine zutiefst demokratische Form der Herrschaft der Arbeiterklasse, nicht eine Diktatur zum Wohle und Nutzen des Proletariats, sondern die Herrschaft des Proletariats!" im krassen Widerspruch. Dieser Widerspruch ist jedoch insofern nur ein scheinbarer als es sich hier um eine allgemeine Aussage handelt. Die sich aus ihr ergebenden notwendigen Schlußfolgerungen ignoriert F.Müller jedoch souverän, wenn er Staaten, in denen keine proletarische Revolution stattgefunden hat und die folglich auch seiner soeben zitierten Definition von Sozialismus überhaupt nicht entsprechen (können), unbeirrt als ‘real sozialistisch' bezeichnet. Als eine mögliche Erklärung dafür bliebe nur, daß er bereits dort mit dem Marxismus als der Wissenschaft von der proletarischen Revolution gebrochen hat, wo es eben um die unbedingte Notwendigkeit des revolutionären Bruchs mit dem Kapitalismus anstatt eines evolutionären Übergangs von diesem in den Sozialismus geht. Oder anders ausgedrückt: Wenn diese Staaten sozialistische waren, dann heißt das entweder, daß Sozialismus ohne Arbeitermacht möglich ist, oder daß die Arbeiterklasse ihre Macht auf nicht-revolutionärem, d.h. reformistischem Weg erringen kann. Marx und Lenin allerdings waren sich der Tatsache bewußt, daß eine Arbeiterklasse, die nicht fähig ist, ihre Bourgeoisie zu stürzen, auch nicht herrschen kann.

F.Müller hält also im Konkreten die stalinistische Grundposition aufrecht, daß die Befreiung der Arbeiterklasse nicht unbedingt durch sie selbst geschehen müsse, sondern auch das Werk einer wohlmeinenden (sich offiziell auf den Marxismus-Leninismus berufenden) zwischen den Hauptklassen stehenden Schicht (wie etwa in China einer aus der kleinbürgerlichen Intelligenz hervorgegangenen militärischen Bürokratie, die sich auf eine Bauernarmee gestützt hat) sein könne. Seine Ablehnung der Theorie vom Sozialismus in einem Land ist unter diesen Umdständen weniger der dringend notwendige revolutionäre Schritt nach vorne. Vielmehr begründet er eine aus der Niederlage geborene grundsätzlich fatalistische Haltung.

Schon hier haben wir es daher im völligen Widerspruch zum ersten Eindruck, den Müllers Broschüre macht, nicht mit einer Rückkehr zum Marxismus, sondern mit einem Bruch mit diesem zu tun. Das wird ganz deutlich im letzten Teil der Broschüre, wo es um die zukünftigen Perspektiven geht. Hier nämlich verabschiedet er sich gewissermaßen offiziell vom Marxismus, indem er die gesamte Arbeiterklasse der imperialistischen Länder als ‘Arbeiteraristokratie' abschreibt und so zu der maoistisch anmutenden These gelangt: "Der Hauptwiderspruch unserer Epoche besteht nicht mehr zwischen nationaler Bourgeoisie und Proletariat, sondern zwischen der globalen und absoluten Herrschaft des international verfilzten Kapitals und der übergroßen Mehrheit der von ihm abhängigen, in seinen Diensten stehenden oder zum sozialen und biologischen Untergang verurteilten Erdbevölkerung."

Über die Arbeiteraristokratie schreibt er etwas unbestimmt, sie habe gegenüber dem Weltproletariat unterschiedliche Interessen. Es ist nicht klar, ob er damit wiedersprüchliche meint. Ohnehin aber ist sein Rückgriff auf Lenins Theorie von der Arbeiteraristokratie in zumindest einer Hinsicht überflüssig. F.Müller hat nämlich zuvor bereits die Arbeiterklasse ausschließlich als die Klasse der "durch Lohn bezahlten manuellen Arbeiter" definiert und festgestellt, daß diese durch die technologische Entwicklung ohnehin im Begriff seien zu verschwinden. Dazu wußte allerdings bereits sein Parteigenosse Hermann Duncker 1922 in seinem Aufsatz ‘Marx als ökonomischer Forscher' Folgendes zu sagen: "Es ist eine beliebte Fälschung der bürgerlichen Marx-Kritiker, die sich aber bis in das Buch von M.Beer über Marx fortspinnt, daß Marx unter der mehrwertschaffenden, also ausgebeuteten Arbeit, nur die eigentliche Handarbeit verstanden habe. Man hoffte oftmals wohl, so die intellektuellen Lohnarbeiter vor der Infektion mit Marxismus zu bewahren. Demgegenüber mag hier unterstrichen werden, daß Marx zum kapitalisch-produktiven Arbeiter rechnete «alle, die zur Produktion der Ware in der einen oder anderen Weise mitarbeiten, vom eigentlichen Handarbeiter bis zum Direktor, Ingenier (als unterschieden vom Kapitalisten)». Womit natürlich nicht bestritten werden soll, daß das Kapital die obersten Spitzen dieser intellektuellen Lohnarbeiter durch Beuteanteile am Mehrwert zu bestechen sucht und daß weitere Schichten durch ihre soziale Tradition der Wirklichkeit gegenüber auf längere Zeit blind gemacht werden." (H.Duncker: ‘Einführung in den Marxismus'. VMB, Frankfurt/M 1985, S.126)

Nun ist F.Müller insofern wohl zuzustimmen, daß die ‘schwachen Glieder des Imperialismus' heute wie schon zu Zeiten der Oktoberrevolution nicht die imperialistischen Kernländer selbst sind, sondern eine bestimmte Kategorie von diesen abhängiger Länder. Das sind allerdings jene, in denen nicht etwa die ärmsten Massen leben, sondern die, in denen das Proletariat am zahlreichsten und konzentriertesten ist, also nicht der Tschad und Afghanistan, sondern Länder wie Südafrika, Südkorea oder Brasilien. F.Müller jedoch spricht in Hinblick auf die Halbkolonien nicht von der dortigen Arbeiterklasse als führender Kraft einer sozialistischen Revolution, sondern klassenneutral von der "übergroßen Mehrheit" der "abhängen" oder "zum Untergang verurteilten Erdbevölkerung". Das sind eher Frantz Fanon's ‘Verdammte dieser Erde', die sich erwiesenermaßen ohne Führung durch ein klassenbewußtes Proletariat zwar öfter als dieses erheben mögen, aber nicht zur Etablierung ihrer eigen Herrschaft fähig sind. Sie können alleine bestenfalls einer neue Fraktion der Bourgeoisie oder einer in deren langfristigem Interesse sozusagen als 'Regentenklasse' herrschenden Bürokratie in den Sattel helfen.

Statt wie es auf den ersten Blick scheinen könnte, den Marxismus gegen den "Renegaten André Brie, den Politkabarettisten Gysi und den promovierten Politik-Unwissenschaftler Byski" zu verteidigen, spiegelt Müller den depressiven Fatalismus der Niederlage wider (es gibt auch den anderen Fatalismus nach dem Motto "So oder so, die Erde wird rot"). Dabei reiht er sich unter diejenigen Ideologen des Kleinbürgertums ein, die, indem sie einen Sozialismus ohne proletarische Herrschaft propagieren, die Herrschaft der Bürokratie, bestenfalls eines ebenfalls kleinbürgerlichen Parasiten der Arbeiterklasse, vorbereiten.

In Wirklichkeit ist es so, daß es keinen Sozialismus ohne die Arbeiterklasse der imperialistischen Länder geben kann. Deren Lebensumstände und zeitweiligen Interessen mögen zwar nicht identisch mit denen der Arbeiterklasse in den armen Ländern oder überhaupt der Mehrheit der Menschen auf der Erde sein. Sie stehen aber nicht im Gegensatz dazu, sondern im Grundkonflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital objektiv auf der gleichen Seite. Schon jetzt ist überdies abzusehen, daß die im Nachkriegsboom entstandene Schicht der Arbeiteraristokratie ihre ehemalige Stabilität einbüßt und sich schließlich weitgehend auflösen wird. Der neoliberale Angriff auf den Sozialstaat und den diesem zugrunde liegenden Klassenkompromiß sorgt dafür. Revolutionäre Erfolge in den Ländern der kapitalistischen Peripherie werden diesen Prozess möglicherweise politisch zunächst bremsen aber wirtschaftlich beschleunigen.

Ich bin davon überzeugt, daß Prof. Müller sich durch diese Kritik völlig mißverstanden fühlen wird. Aber es ist im Interesse der dringend gebotenen Rekonstruierung des proletarisch-revolutionären Marxismus notwendig, ihm und mehr noch eventuell Gleichgesinnten die Widersprüche in seinem Denken und die Logik seiner Thesen deutlich zu machen.

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