In der VR China ist der Klassenkampf kein Spiel

A. Holberg

Chinesische Kinder geben sich im industrialisierten und bis zur Unerträglichkeit zu Wasser, Land und Luft verschmutzten Nordosten der Volksrepublik einem neuen Spiel hin. Das Spiel heißt 'Bring den Boss um' und stellt nach, was sich vor allem in dieser Region seit geraumer Zeit immer stärker als ein Mittel des Klassenkampfes entwickelt hat.

Dieses Jahr hatten die Manager in einer staatlichen Werkzeugfabrik noch einmal Glück. Sie fürchteten schon um ihr Leben als streikende Arbeiter sie ohne Wasser und Brot in ihren Büros einschlossen. Diesmal jedoch hängten die Arbeiter nicht ihre Chefs auf, sondern ein Transparent, auf dem sie gegen die angekündigte Privatisierung protestierten und die Bosse aufforderten ihre Häuser und Limousinen zu verkaufen, statt die Arbeiter um ihr Brot zu bringen.

Die von den Eltern der Kleinen immer häufiger eingesetzten Mittel wie das mit Knüppeln durch die Straßen Treiben, das Aushungern und in einigen Fällen das Aufknüpfen ihrer Chefs ist offensichtlich nicht einer Wiederauferstehung der Roten Garden der maoistischen 'Kulturrevolution' geschuldet. Keine Fraktion des herrschenden Regimes nutzt heute solche Mittel für den Machtkampf. Es scheint aber, dass eine sich mehr oder minder spontan organisierende Bewegung von der Art der US-amerikanischen 'Wobblies' (IWW), der syndikalistischen Militanten der Zeit bis in den 1. Weltkrieg hinein, dabei eine Rolle spielt. Anarchistische und verwandte Strömungen hatten übrigen einen starken Einfluß auf die Gründung der KP Chinas vor 81 Jahren (s. Arif Dirlik. The Origins of Chinese Communism. 1989). Ihre ebenso illegalen wie militanten Aktionen und Bemühungen fallen in wichtigen industriellen Regionen Chinas bei den Arbeitern auf fruchtbaren Boden. Die Kämpfe werden in einer zunehmenden Zahl von Fällen von Forderungen nach der Organisierung unabhängiger Arbeitergewerkschaften begleitet. Wie bei ihren -- unbewussten -- Vorbildern jedoch sind langfristige und stabile Organisationen noch nicht aus den Kämpfen hervorgegangen, obwohl das Treiben der offiziellen 'Allchinesischen Gewerkschaftsföderation' Anlaß genug zur Empörung liefert. Deren Bosse nämlich hielten es für angebracht, in diesem Jahr bereits mindestens 21 Unternehmer, 17 davon ausgerechnet am 1. Mai, mit Medaillen als 'vorbildliche Arbeiter' auszuzeichnen. Der stellvertretende Gewerkschaftsvorsitzende Li Qisheng begründete diese Aktion damit, dass die 'ehrenhaft und legal' arbeitenden Unternehmer auch zum Aufbau des Sozialismus beitrügen. "Die Medaillen müssen mit dem Strom der Zeit mithalten". Bei den Arbeitern scheint jedoch der Strom der Zeit zunehmend in entgegengesetzte Richtung zu verlaufen.

Die Sicherheitskräfte des Regimes jedenfalls scheinen bereits begonnen zu haben, sich Sorgen zu machen und zu fürchten, dass die bislang lokal und zeitlich begrenzen Bewegungen im Untergrund sich doch weiter organisieren könnten. CNN hatte im März berichtet, dass die Führung strickte Order gegeben habe, jeden aufkeimenden Konflikt in Zukunft durch die paramilitärische 'Bewaffnete Volkspolizei' im Keim zu unterdrücken.

Über der Herkunft der revolutionären Kader, deren Heldentaten bereits innerhalb der Arbeiterklasse durch Mund zu Mund Propaganda in weite Regionen des Landes propagiert werden, wird noch gerätselt. Die verbreitetste Ansicht ist die, dass es sich hier um die radikalsten Teile der Demokratiebewegung von 1989 handele. Entgegen der im Westen gängigen Propaganda war diese Bewegung keineswegs eine rein studentische. So wies selbst die 'Far Eastern Economic Review' darauf hin, dass nach Massaker am Tiananmen Platz es Arbeiterführer und nicht Studenten waren, die zum Tode und zu den längsten Haftstrafen verurteilt wurden. Parallel zu diesem Massaker vom Tiananmen-Platz am 4. Juni 1989 wurden im übrigen in den Straßen der Arbeiterviertel Beijings viel mehr Menschen umgebracht als auf dem Platz selbst. Die damaligen Arbeiterführer hatten offensichtlich auch wesentlich weniger bürgerlich-demokratische Illusionen als viele Studenten. So schrieb etwa die -- illegale -- Pekinger Arbeiterunion bereits am 17. Mai jenes Jahres, dass sie auf der Basis der Lektüre vom Marxens 'Kapital' "erstaunt" festgestellt hätten, "dass die 'Diener des Volkes' den gesamten vom Blut und Schweiß des Volkes geschaffenen Mehrwert verschlungen haben". Ein wesentlicher Teil dieser Arbeiterführer scheint zu einem Reformflügel im offiziellen Gewerkschaftsverband gehört zu haben, der nach dem 4. Juni dort liquidiert worden ist.

Die Verschärfung der sozialen Auseinandersetzungen in China sind das Ergebnis der Folgen, die die offiziell so erfolgreiche Reformpolitik für eine wachsende Zahl nicht nur von Bauern, sondern auch von Arbeitern hat, die einst -- bei einem allgemein niedrigen Lebensstandard -- zumindest die Sicherheit der berühmten 'eisernen Reisschüssel' genossen, d.h, staatlich garantierte Arbeitsplätze, Wohnung und dergleichen. Wenngleich er sie runterzuspielen versuchte, musste doch auch Ministerpräsident Zhu Rongji diesem Jahr in seinem Bericht an den Volkskongress die Zunahme von Problemen allenthalben eingestehen. Neben der trotz drakonischer Strafen rasant um sich greifenden Korruption, dem trotz der angeblich im vergangenen Jahr um 7,3% gewachsenen Wirtschaft in bisher nicht gekannte Höhe geschnellte Finanzdefizit und des Rückgangs des Lebensstandards bei großen Teilen der bäuerlichen Bevölkerung ist das vor allem der Bankrott vieler Staatsbetriebe und die damit einhergehende Massenarbeitslosigkeit. Diese liegt offiziell bei 3,6%, das sind insgesamt 12 Millionen Menschen. Andere Spezialisten schätzen jedoch eine deutlich über 10% und bis zu 20% reichende Arbeitslosigkeit. In der Provinz Liaoning im Nordosten, einst ein Zentrum der Schwerindustrie, sind inzwischen wegen des Bankrotts einer großen Zahl der Werke die Hälfte der Arbeiter erwerbslos. In Städten wie Liaoyang und Shenyang soll die Arbeitslosigkeit über 25% betragen. Der Gouverneur der Provinz kündigte am 9. Mai für das laufende Jahr angesichts der Umstrukturierung des Staatssektors im Interesse einer freien Marktwirtschaft die Entlassung einer weiteren halben Million von Arbeitern an. Diejenigen, die Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, sind mit dem Problem konfrontiert, dass dieses oft gar nicht oder zumindest um Monate verspätet ausbezahlt wird. Entsprechend können die Arbeitsgerichte die Klagen schon kaum noch bewältigen. Deren Zahl ist im Jahre 2001 landesweit gegenüber dem Vorjahr um 33% gestiegen.

Die Ermordung von irgendwelchen Firmenbossen ist natürlich nur die Spitze des Eisbergs. Auf dem Hintergrund der geschilderten Situation, die sich durch den Beitritt der VR China zur Welthandelsorganisation (WTO) weiter verschärfen wird, nehmen die Klassenkämpfe in allen möglichen Formen dramatisch zu. Alleine im März dieses Jahres demonstrierten in Daqing 50.000 entlassene Öl-Arbeiter drei Wochen lang. Am 1. Mai begannen rund 10.000 ehemalige Erdölarbeiter dort erneut mit einer Reihe von Protestaktionen. Im Februar hatte Chinas größter Erdölkonzern 'Petro China' versucht, die Arbeitslosengelder für 80.000 entlassene Arbeiter drastig zu kürzen. Bei den folgenden Protestaktionen der meist zwischen 40 und 50 Jahre alten Arbeiter wurden an die 60 von ihnen verhaftet, und in der zweiten Maihälfte waren immer noch einige von ihnen nicht freigelassen worden. Die Ölarbeiter von Daqing sind eben jene, von denen zu lernen der 'Vorsitzende' Mao Tse Tung 1964 die Chinesen aufforderte. In Liaoyang, der Hauptstadt der Provinz Liaoning, belagerten mehrere Tausende Stahl- und Textil-Arbeiter den Sitz der Provinzregierung und wurden dabei von manchmal bis zu 30.000 Arbeitern aus 20 Staatsbetrieben unterstützt. Im vergangen Jahr waren in dieser Provinz über 500.000 Arbeiter aus dem staatlichen Sektor entlassen worden, und die Mehrheit von ihnen hatte bis zum Frühjahr diesen Jahres noch nichts von den 10.000 Yuan ($1.200) gesehen, die ihre früheren Arbeitgeber ihnen schulden. Der Bürgermeister von Liaoyang hatte aber öffentlich bekundet, die Stadt habe gar kein Arbeitslosenproblem. Obwohl sie bereits Ende März die ausstehenden Arbeitslosengelder erhalten hatten, begannen Hunderte von entlassenen Arbeiter des dortigen Ferro-Leichtmetallwerkes am 3. Mai, das Stadthaus zu belagern und forderten die Freilassung ihrer zuvor verhaftet vier Führer -- Yao Fuxin, Xiao Yunliang, Pang Qingxiang und Wang Zhaoming. Am 15. Mai versuchte die Stadtregierung, die Kundgebung gewaltsam zu beenden. Die Polizei isolierte die Verhafteten und ihre Familien in der Folgezeit und sorgte dafür, daß keine weiteren Informationen über die Situation in der Stadt mehr an die Öffentlichkeit drangen. In der Stadt Fushun in der Provinz Heilongjiang gingen die Arbeiter Mitte März auf die Straße, um ihre Löhne einzufordern und gegen die Veruntreuung öffentlichen Eigentums durch die Bürokraten zu protestieren. In Urumqi, in der im äußersten Westen gelegenen Provinz Xinjiang, demonstrierten am 11. März mehrere Tausend Arbeiter von Traktorenwerken gegen die Privatisierung von Staatseigentum und Grund und Boden. An mehreren der hier aufgeführten Orte aber auch anderswo bildeten die Arbeiter Organisationen und wählten Vertreter, um ihre Forderungen, darunter die nach anerkannten unabhängigen Gewerkschaften, vor die Regierung und den Volkskongreß zu bringen.

Seit Beginn des neuen Jahrtausends haben massive Arbeitskämpfe im Norden, Nordosten, Osten und Westen des Landes, Streiks in der Erdölindustrie und im Schiffsbau, in Bergwerken und unter den Wanderarbeitern an den Küsten und im Süden stattgefunden. In der Henan-Provinz haben sich Hunderte von verarmten Bauern Straßenschlachten mit der Polizei geliefert, die durchsetzen wollte, dass nach fünfjährigem Steuerstreik die angefallenen Steuern endlich bezahlt werden. Die Polizei blieb erfolglos. Eine derartige Welle des Klassenkampfes hat es seit Ende der 80er Jahre nicht gegeben, und erstmals werden die ökonomischen Forderungen fast überall von solchen nach unabhängigen gewerkschaftlichen Organisationen begleitet.

Während des jüngsten Streiks in Daqing wurden Tausende Polizisten und Soldaten, sogar mit Panzern, in die Stadt geschickt. Das hat aber nicht verhindert, dass danach auch Berichte von Streikaktionen in den Erdölfeldern der Provinz Xinjiang eingingen, den zweitwichtigsten des Landes. Anfang Mai wurde berichtet, dass von den Aktionen in Daqing animiert auch 60.000 entlassene Arbeiter aus den Shengli-Ölfeldern in der nördlichen Hebei-Provinz den Konzern wegen der ausstehenden Pensionen und Sozialleistungen vor Gericht gebracht haben.

China ist riesig, und es gibt eine wachsende Zahl von Bürgern, die inzwischen einen bis dato ungekannten Wohlstand nach westlichem Muster genießen. Seit den Unruhen von 1989 und dem Massaker in Beijing hat die Führung der KPCh noch systematischer als zuvor auf die Schaffung einer neuen privaten Klasse von Nutznießern gesetzt, um sich statt der in der Vergangenheit propagandistisch bemühten Arbeiter und Bauern eine neue Herrschaftsbasis zu verschaffen. Zwischen 1990 und heute ist der Anteil des Privatsektors an der industriellen Produktion im Land von 4,4% auf 26,1% gewachsen. Das Gros der Studenten und modernen Elite, die 1989 mit allerhand Klassenvorbehalten eiun faktisches Bündnis mit der Arbeiterklasse eingegangen waren, um für eine Demokratisierung zu streiten, wurde inzwischen vom Regime kooptiert oder zumindest durch Profitaussichten im Privatsektor neutralisiert. Die oben beschriebe Entwicklung deutet darauf hin, dass die Arbeiterklasse beginnt, nicht länger Rammbock für klassenfremde Interessen wie 1949 (Gründung der VRChina), 1966-68 ('Kulturrevolution') und 1989 ('Demokratiebewegung') zu sein, sondern eine eigenständige Führung herausbildet. Wenngleich die jüngste Welle der Klassenkämpfe überwiegend arbeitslose Teile der Klasse betrifft, Die Tatsache jedoch, dass Chinas Wirtschaftswachstum insbesondere seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre weitaus mehr extensiv als intensiv war, dass das Wachstum der Produktivität sich deutlich verlangsamt hat, bedeutet auch, dass dieses Wachstum einen extrem niedriges Lohnniveau im privaten Sektor zur Grundlage hat. In den dem Export dienenden Sonderzonen, deren Zahl nirgends so hoch ist wie in der VR China verdienen etwa Arbeiter im Textilbereich deutlich weniger als etwa in Indonesien, um von Thailand ganz zu schweigen. Bei einer immer sichtbarer auftretenden Schicht eines neuen Mittelstandes wird das über kurz oder lang auch die Unzufriedenheit bei der Arbeiterklasse im Privatsektor auf den Siedepunkt bringen. Die Tatsache, dass gegenüber den 70er Jahren die absolute Armut in China deutlich zurückgegangen ist -- und nun der Weltbank zufolge bei rund 22% der Bevölkerung liegt -- wird ein Aufbrechen der sozialen Gegensätze nicht verhindern, im Gegenteil. Das gilt umso mehr als der Rückgang der absoluten Armut vor allem die ländlichen Gebiete betrifft. In den städtischen hingegen ist ein umgekehrter Trend zu verzeichnen.

Die mannigfachen Widerspräche im Land währen im Interesse der werktätigen Bevölkerung letztlich nur lösbar, wenn das immer noch relativ hohe Wirtschaftswachstum die Aussicht auf einen mit den imperialistischen Nationen strukturell zu vergleichen Platz im Weltmarkt eröffnete. Insbesondere in einer Zeit aber, da von nicht Wenigen als überwunden geglaubte soziale Widersprüche in die imperialistischen Länder selbst zurückkehren, bedeutet die Tatsache, dass China trotz seiner potenziellen Kraft sowohl in Hinblick auf wirtschaftliche Leistung wie auch als Markt weiter ein 'Dritte Welt'-Land ist und im Rahmen des Imperialismus auch niemals aus der damit verbundenen Abhängigkeit ausbrechen können wird. Die Widersprüche werden deshalb hier angesichts der charakteristischen ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung eine besonders zugespitzte Form annehmen werden. Gewiss Beobachter haben bereits Zweifel daran geäußert, ob das Regime die nächsten fünf Jahre überleben wird. Auf ein solches Datum sollte man sich nicht festlegen. Daß sich aber in China ein Sturm zusammenbraut, der wie schon einmal eine immense Auswirkung auf den Rest der Welt haben wird, scheint immer wahrscheinlicher.

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