8.3.01

An die 'Direkte Aktion'
Anarchosyndikalistische Zeitung der Freien ArbeiterInnen Union (FAU-IAA)

zu: "Deutsche TäterInnen sind keine Opfer"

in DA Jan-Febr. 2001

Da die deutsche Ideologie des ‘antinationalen' Radikalismus sich - wie man etwa in der Behandlung der Palästinafrage durch die Zeitschrift ‘Konkret' sehen kann - inzwischen von einer Kinderkrankheit zu einem veritablen Vehikel eines abendländischen ‘Sozialimperialismus' (sozialistisch in Worten, imperialistisch in der Tat) gemausert hat, ist es unvermeidlich geworden, ihm auch in der Gestalt entgegenzutreten, die er in der ‘Direkten Aktion' Nr. 143 angenommen hat.

Die Kritik am Beitrag von ‘jhf' (der von LL ist in der Stoßrichtung identisch) muß sich auf der Ebene der historischen Fakten sowie der der Logik der Argumentation bewegen.

Fangen wir mit der zweiten Ebene an: Schon der Titel ist falsch. Selbstredend können Täter sehr wohl in anderem Zusammenhang auch Opfer sein. Müßten wir als ‘Linke' beispielsweise neutral sein, wenn seit langem im Kosova lebende Juden, Serben oder Roma, die zur nationalen Unterdrückung der dortigen albanischen Mehrheit durch den serbischen Staat geschwiegen haben, jetzt von albanischen Chauvinisten, die ein ethnisch reines Kosova wollen, vertrieben oder gar umgebracht werden, weil sie keine Albaner sind? Dieses Beispiel greift deshalb durchaus, weil jhf sich offensichtlichselbst ansatzweise ohnehin der Tatsache bewußt ist, daß keineswegs alle deutschen Opfer der Vertreibung auch Täter der faschistischen Verbrechen waren. Er zitiert im ersten Abschnitt Stefan Hermlin, der von Millionen Deutschen spricht, die nicht mordeten und folterten, aber die Mörder und Folterer duldeten. Wenn aber bereits die Duldung - oder genauer gesagt das Nicht-Widerstandleisten - ausreicht, um einen zum Täter zu machen, dann ist weltweit die Zahl der Menschen, die nicht Täter bei irgendeinem im Namen ihrer ethnischen, nationalen oder religiösen Gruppe begangenen Verbrechen waren, überaus gering. In der Tat könnte man beispielsweise fragen, ob denn nicht die Polen, Russen, Ukrainer oder Balten, die keinen Widerstand gegen die in ihren Ländern endemischen antijüdischen Pogrome lange vor der Nazi-Zeit geleistet haben, ihrerseits ‘Täter' waren und deshalb keine Opfer der ebenfalls antisemitischen Nazis sein konnten. Wir denken, daß das offensichtlich Unsinn ist.

Wir wundern uns zu sehen, daß die moralisch so bewegten ‘Antinationalen' sich offenbar überhaupt nicht vorstellen können, was es für Menschen - und insbesondere für solche ohne eine klare ideologische und organisatorische Alternative - bedeutet, in einer Diktatur Widerstand leisten zu sollen. Das wundert uns insbesondere, da doch die Beispiele der mangelnden Zivilcourage innerhalb der bürgerlichen Demokratien und sogar innerhalb linker Zusammenhänge Legion sind. Erklärungsbedürftig ist in Wirklichkeit leider nicht, wieso die Mehrheit der deutschen Bevölkerung zumindest nach 1933 gegen den Faschismus nicht den Mund aufgemacht hat, sondern wie es trotz der Zerschlagung ihrer Parteien und Gewerkschaften dennoch so viel - wenngleich bei weitem nicht genug - Widerstand (gerade auch von Seiten der Arbeiterklasse) gab. Wir alle, die wir hier diskutieren, haben noch nicht bewiesen, daß wir dazu fähig wären. Das hat wohlbemerkt überhaupt nichts mit einer Beweihräucherung der Arbeiterklasse zu tun. In nichtrevolutionären Zeiten ist auch das in der Arbeiterklasse vorherrschende Bewußtsein stets mehr oder weniger das der Herrschenden. Wäre das nicht so, dann wären die Herrschenden nicht länger an der Macht.

Jhf hat natürlich recht, wenn er schreibt, daß nicht "ein abstraktes Kapital" in Polen gewütet habe, sondern lebende Deutsche, und daß es 1933 nicht eine kleine Clique von Mördern und antisemitischen Fanatikern gewesen sei, die die Herrschaft an sich gerissen hätten. Das unterscheidet in der Tat die faschistische Machteroberung etwa von einem reaktionären Militärputsch, daß sie dazu nicht nur die Unterstützung durch die führende Fraktion der Bourgeoisie, sondern eine im wesentlichen konterrevolutionäre Massenbewegung einsetzt, die sich im wesentlichen aus verzweifeltem Kleinbürgertum rekrutiert. Daraus aber umstandslos zu schließen, daß die Mehrheit des deutschen Volkes, durch Antisemitismus und Rassismus zur ‘Volksgemeinschaft' vereinigt, zu willigen Trägern des Systems geworden sei, schießt weit über das Ziel hinaus und verkennt auf jeden Fall die Widersprüchlichkeit des alltäglichen Bewußtseins der Massen. In Wirklichkeit hat der Antisemitismus für die NSDAP zumindest in der ‘Kampfzeit' in der Propaganda nach außen nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Das konnte auch kaum anders sein, denn anders als etwa in Osteuropa war in Deutschland der Antisemitismus eher latent und jedenfalls bis auf Randgruppen nicht militant oder gar ‘eliminatorisch'. Wäre es anders gewesen, hätte der Zionismus auch unter den jüdischen Deutschen schon vor den Nürnberger Gesetzen eine große Anhängerschaft gefunden. Das war aber nicht so.

Wenn ‘jhf' schreibt: "Die Nazis errichteten keine Diktatur über oder sogar gegen das Volk. Ohne die aktive Unterstützung der Bevölkerung wäre das Nazi-Regime in der Form nicht möglich gewesen" und dabei als Beleg die weite Verbreitung von Denunziationen anführt, übersieht er zum einen, daß die Konsolidierung der Nazi-Herrschaft die terroristische Zerschlagung fast aller unabhängigen organisatorischen Strukturen der Bevölkerung zur Voraussetzung hatte. Insbesondere mußte die Arbeiterklasse, deren Organisationen die stärksten außerhalb der Sowjetunion waren, politisch atomisiert werden bevor eine ‘Volksgemeinschaft' geschaffen werden konnte. Gleichzeitig ignoriert er die Tatsache, daß im Falle der hier gegebenen staatlichen Unterstützung nur eine deutliche Minderheit der Bevölkerung von Nöten war, um die erwähnte Überwachung und die übrigen Verbrechen des Regimes zu begehen. Ob der Rest sich diesen Verbrechen im Ernstfall verweigert hätte, bleibt völlig spekulativ.

Festzuhalten bleibt deshalb entgegen allen ‘antinationalen' und faschistischen Mythen von der ‘Volksgemeinschaft', daß 1. der Faschismus von der Bourgeoisie nicht hätte an die Macht gebracht werden müssen, wenn die ‘Volksgemeinschaft' schon bestanden hätte, und daß 2. für das Ausmaß der möglichen aktiven Unterstützung oder auch nur wohlwollenden Duldung des NS-Regimes durch die deutsche Bevölkerung die Tatsache der Niederlage der Arbeiterklasse, der Diktatur und verschiedener ihrer Anfangserfolge nicht übersehen werden sollte. Wie groß die Unterstützung der Bevölkerung für die offenkundigen Verbrechen des Faschismus war, ist weder direkt aus den Wahlerfolgen der NSDAP, der geringen Zahl der SD-Beamten in Essen (es gab schließlich noch eine Reihe weiterer Repressionsorgane), noch aus der Zahl der Nutznießer der 'Arisierung' jüdischen Eigentums zu entnehmen. Daraus ist bestenfalls zu entnehmen, daß die meisten Deutschen keine Helden und gegebenfalls eigensüchtige, autoritätshörige Wichte waren, wie das außer in revolutionären Zeiten mehr oder weniger für die Bevölkerung aller Länder gilt. Die von den ‘Antinationalen' propagierte Idee der Kollektivschuld ist also grundsätzlich nicht nur eine auf den Kopf gestellte Version der nationalistischen Parole "Ich bin stolz ein Deutscher/ Russe etc. zu sein", "weil ‘wir' Goethe/ Tolstoi haben", sondern im konkreten Fall auch durch nichts zu belegen.

Davon ausgehend ist folgende Aussage von ‘jhf' auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu untersuchen: "Vertrieben wurden jene, die als Soldaten oder Polizisten (polnische) Militärs und Zivilisten ermordeten. Jene, die (polnische) Zwangsarbeiter auf ihren Höfen beschäftigten, die sich am Gut der Deportierten bereicherten, die denunzierten, die Beifall klatschten und die doch ‘von nichts wußten'". Im Hinblick auf die relevanten Fakten stützen wir uns vor allem auf das Buch des Marxisten Ygael Gluckstein: Stalin's Satellites in Europe. (Birkenhead 1952). Als Beispiel nehmen wir die Tschechoslowakei und das Sudetenland, da Gluckstein (Tony Cliff) hierüber ausführlicher schreibt. Die seit 700 Jahren im Sudetenland lebenden Deutschen hatten den höchsten Anteil an Arbeitern in der Tschechoslowakischen Republik und eine lange sozialistische Tradition. Die Sozialdemokratische und die Kommunistische Partei erreichten hier 1920 zusammen fast 50% der Stimmen. Die Wirtschaftskrise 1929 und die antideutsche Diskriminierung durch die tschechoslowakische Bourgeoisie führte besonders hier zu einer hohen Arbeitslosigkeit, während gleichzeitig nach 1933 ‘im Reich' Vollbeschäftigung herrschte - aus welchen Gründen auch immer. Auf dieser Basis erreichte der Nazi-Führer Henlein 1935 fast 63% der Stimmen, die SP 15% und die KP 6%. Bis zum Schluß stimmten 400.000 Sudetendeutsche gegen Henlein. Nach dem Münchener Abkommen, das das Sudetenland an das Deutsche Reich gab, mußten die Aktivsten von ihnen in die Tschechoslowakei fliehen, die allerdings 20.000 von diesen wieder an die Gestapo auslieferte und 10.000 anderen am Betreten des Landes hinderte. 40.000 Sudetendeutsche kamen in Nazi-KZs, wo etwa 20.000 starben. Henleins Erfolg basierte in erster Linie auf sozialer Demagogie. 1943 sagte der sudetendeutsche Kommunist Bruno Köhler über ‘Radio Moskau': "Hitler kam in das Sudetenland, und wird auch wieder gehen. Aber das Sudetenland und die Sudetendeutschen werden bleiben." Zwei Jahre später jedoch sagte KPTsch-Führer Gottwald: "Die neue Republik wird ein slawischer Staat sein, eine Republik der Tschechen und der Slowaken." Der Informationsminister Vaclav Kopecky sagte am 25.5.45 in ‘Radio Prag': "Die tschechoslowakische Armee ist schon bereit für die Säuberung der Grenzgebiete der Republik von Deutschen und Ungarn und für die Rückgabe der Reichtümer dieser slawischen Gebiete in die Hände der Tschechen und Slowaken." In Liberec (Reichenberg) sagte der gleiche KP-Minister: "...Wir werden nicht nur die Stadt, sondern die ganze Gegend entgermanisieren... damit der Siegergeist des Slawentums von den Grenzen des Landes bis hinein ins Innere herrscht." Keine Rede also von Antifaschismus, sondern von völkischem Chauvinismus. Als Mitglieder der KP in Bodenbach eine zweisprachige Tageszeitung ‘Rudy Prapor - Rote Fahne' zu publizieren begannen, wurde diese sofort vom stalinistischen Innenminister Vaclav Nosek wegen des deutschen Teils sofort verboten. Gluckstein faßt zusammen: "Die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei kann nicht als Ergebnis des spontanen Volkshasses erklärt werden. Die Mehrheit der Slowaken, die keine Teutonen sind, sondern Slawen, unterstützte Tiso, den Marionettenherrscher der Nazis in der Slowakei, nicht weniger bereitwillig als die Mehrheit der Sudetendeutschen Henlein. Die Zahl der slowakischen politischen Gefangenen, die in Nazi-KZs starben, war kleiner als die der Sudetendeutschen, und es gab auch unter den Tschechen relativ weniger Opfer." Zu den Gründen für die staatlichen Vertreibungsmaßnahmen gegen die deutsche Bevölkerung gehörte der gemeinsame Versuch der tschechoslowakischen Bourgeoisie und Stalinisten, das erwachende revolutionäre Bewußtsein der Volksmassen insbesondere der Arbeiterklasse durch Anfachung des Chauvinismus zu neutralisieren und gleichzeitig den größten Teil der Industriebetriebe, die sich im Besitz von Deutschen befanden, zu verstaatlichen und damit der stalinistischen Bürokratie eine ökonomische Basis zu schaffen.

Eine ‘antinationale' Sichtweise entspricht den Klasseninteressen dieser reaktionären Kräfte und nicht denen der Massen gleich welcher Nationalität. Aber diese Massen, die heute reaktionär und morgen revolutionär sein können, sind den ‘antinationalen' Radikalen ohnehin ebenso fremd wie verdächtig. Die Antithese zum Nationalismus heißt deshalb nicht ‘Antinationalismus', sondern proletarischer Internationalismus.

R. Rémy (KOVI-BRD)

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