‘Multinationalität' oder Selbstbestimmungrecht?: über den Defaitismus der ‘Linken'

von R. Rémy

Wenn der Krieg überhaupt eine positive Seite hat, dann die, den Charakter politischer Kräfte zu verdeutlichen. Das gilt insbesondere für einen Krieg wie den in Jugoslawien im Frühjahr des Jahres 1999. Für die ‘Linke' in der Bundesrepublik war das ein Krieg, in dem das ‘eigene' Land erstmals nach seiner Niederlage im 2. Weltkrieg wieder außerhalb seiner Grenzen direkt militärisch aktiv war und in dem der angegriffene Staat -- Jugoslawien -- überdies jahrzehntelang ungeachtet allen Auf und Abs positiv besetzt war.

Nachdem zunächst darauf verzichtet werden soll, die Position der offenen Befürwortung des NATO-Krieges in irgendeiner Hinsicht der Linken zuzuordnen, bleiben auf der Linken im wesentlichen die folgenden Positionen übrig: 1. Alt- und neo-stalinistische Positionen, 2. manche pabloistisch-trotzkistische Positionen, 3. die der ‘Antinationalen' und 4. die Minderheitsposition derer, die die Verteidigung Jugoslawiens mit der konsequenten Anerkennung des nationalen Selbstbestimmungsrechtes -- d.h. im marxistischen Sinn des Rechtes auf staatliche Lostrennung -- der Kosovo-Albaner verbanden und die von einigen trotzkistischen und maoistischen Organisationen vertreten wird.

Die Position der reformierten und unreformierten Stalinisten von Teilen der PDS über die DKP bis zu Zeitungen wie der ‘Jungen Welt' besteht in der reflexartigen Verteidigung Serbiens und des Milosevic-Regimes nicht nur gegen die NATO-Aggression, sondern gegen jegliche Kritik insbesondere an der nationalen Unterdrückung der mehrheitlich albanischen Bevölkerung im Kosova. Dabei wird im wesentlichen mit Theorien von weit in die Geschichte zurückreichenden antiserbischen Verschwörungen gearbeitet, deren neueste Version die von der imperialistischen Patenschaft des kosova-albanischen Unabhängigkeitskampfes ist. Darüber hinaus wird auf der Basis des bürgerliche Völkerrechts die territoriale Integrität Serbiens gegen das Unabhängigkeitsstreben der Kosovaren verteidigt.

Die Vertreibung der Serben und anderer nicht-albanischer Minderheiten durch albanische Nationalisten wurde bereits zu einer Zeit emotional durchaus effektiv gegen das Selbstbestimmungsrecht ausgespielt, als diese erst latent gegeben, die Vertreibung und nationale Unterdrückung unbotmäßiger Albaner -- wie üblich unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den ‘Terrorismus' -- jedoch sehr konkret war.

Da sich ein Teil derer, die sich in diesem Lager tummeln, bei Bedarf als Leninisten bezeichnet, sei zunächst Lenin's Position in dieser Frage zitiert. In ‘Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung' schrieb er im Juli 1916: "Es ergibt sich, daß die polnischen Genossen gegen einen solchen Aufstand sind, und zwar deswegen, weil es in diesen annektierten Ländern auch eine Bourgeoisie gibt, die auch fremde Völker unterdrückt oder, richtiger gesagt, unterdrücken kann, da es sich nur um ihr ‘Recht auf Unterdrückung' handelt. Zur Beurteilung eines gegebenen Krieges oder eines gegebenen Aufstands wird also nicht sein wirklicher sozialer Inhalt genommen (der Kampf der unterdrückten Nation gegen die unterdrückende für ihre nationale Befreiung), sondern die Möglichkeit, daß die jetzt unterdrückte Bourgeoisie von ihrem 'Recht auf Unterdrückung' Gebrauch machen könnte." (LW Bd.22, S.339)

Während jegliche Unterdrückung von Minderheiten und ‘ethnische Säuberungen' als Ausdruck bürgerlichen Nationalismus nicht nur zurecht auf die Ablehnung humanitär gesonnener Menschen stoßen, sondern besonders auch auf die revolutionärer und folglich statt nationalistischer internationalistischer Sozialisten, darf darauf hingewiesen werden, daß es den Stalinisten schlecht ansteht, hier an vorderster Front zu protestieren. Es sei daran erinnert, daß die Vertreibung von über 11 Millionen Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei unmittelbar nach dem Krieg gerade auch von den damaligen stalinistischen Führern auf der Basis eines ungebrochenen ethnischen Chauvinismus organisiert wurde (s. Ygael Gluckstein: Stalin's Sattelites in Europe. Birkenhead 1952, pp.183-200) und daß diese ‘ethnischen Säuberungen' bis heute von den hier angesprochenen politischen Kräften in der BRD verteidigt werden.

Leider nicht nur von diesen Kräften wird letztlich auf der Grundlage der unzulässigen Gleichsetzung von Führung und Basis oder anders ausgedrückt auf der Basis der Theorie von einer ‘Kollektivschuld' dahingehend argumentiert, daß bestimmte Verbrechen an anderen Volksgruppen, die unter dem Namen eines Volkes begangen wurden oder werden, dessen Recht auf Selbstbestimmung hinfällig machen. Die logische Folge einer solchen Position wäre allerdings die Delegitimierung praktisch aller Staaten dieser Welt, da in ihrem Namen zu der einen oder anderen Zeit in den meisten Fällen Gruppen von Menschen unterdrückt, wenn nicht gar ausgerottet worden sind. Alle diese Staatsvölker müßten dann unter die Oberaufsicht durch eines der wenigen in dieser Hinsicht unbefleckten Völker -- so es solche überrhaupt gibt -- gestellt werden. Derartige Überlegungen sind offensichtlich nicht von dieser Welt und folglich unmarxistisch.

Nachdem nun aber stalinistische Kräfte dieser Art in anderen Fällen durchaus in der Lage sind, wie etwa im Falle der Kurden in der Türkei die völkerrechtliche Integrität eines -- hier des türkischen Staates -- ebenso hinanzustellen wie die Tatsache, daß natürlich auch in der Türkei die Kurden- und Armenierfrage einst von Imperialisten gegen den nationalen Befreiungskampf des türkischen Volkes instrumentalisiert wurde, bleiben für die Haltung dieser Kräfte zum Jugoslawienkrieg letztlich drei Beweggründe übrig:

Erstens der aus marxistischer Sicht richtige Beweggrund, daß Jugoslawien unabhängig vom Charakter seines Regimes als ein nicht-imperialistisches Land gegen einen imperialistischen Angriff verteidigt werden muß, und zweitens und drittens die völlig falschen Beweggründe, daß diese Verteidigung eine politische sein könne, da Jugoslawien in irgendeiner Hinsicht ‘progressiv', wennnicht gar sozialistisch sei und daß die barbarischen Umstände des Zerfalls Jugoslawiens für das kosova-albanische oder irgendein anders Volk das Recht auf nationale Selbstbestimmung hinfällig machten.

Sieht man einmal von derart abwegigen und deswegen an dieser Stelle nicht weiter zu diskutierenden These ab, daß das heutige Jugoslawien sozialistisch sei, bleibt sein ‘progressiver' Charakter. An dieser Stelle soll nicht die grundsätzlichen Frage diskutiert werden, wie ein kapitalistisches Land in der Phase des Imperialismus, der von Lenin als reaktionärer verfaulender Kapitalismus gekennzeichnet wurde, in einem historischen Sinne 'progressiv' sein kann.

Eines der Kriterien für die vermeintliche 'Progressivität', die von diesen mehr pro-serbisch als antiimperialistischen -- und wie nochdeutlicher werden wird -- schon gar nicht sozialistischen Kräften bemüht wird, ist die Behauptung, daß Jugoslawien (de facto Serbien) in der ‘südserbischen Provinz Kosovo' das Prinzip der ‘Multinationalität', d.h. der Gleichheit aller dort lebender nationaler oder ethnischer Gruppen, gegen einen reaktionären ethnischen Chauvinismus verteidigen, der darüber hinaus angeblich auch noch die Unterstützung des Imperialismus genieße.

In der jW etwa wurde in diesem Sinne der ‘Belgrader Vorschlag für ein Abkommen über die politischen Rahmenbedingungen der Selbstverwaltung für Kosovo und Metohien' vom 20.11.1988 abgedruckt (jW 4.12.98). Einen Monat später (4.1.99) druckte die Zeitung ein Interview mit Jugoslawiens Präsident Slobodan Milosevic, in dem dieser ganz im Sinne des Vorschlages vom 20.11. u.a. sagt: "In Serbien leben 26 verschiedene nationale Minderheiten. Sie alle sind gleichberechtigt. Sehen Sie, beispielsweise die Ungarn im Norden. Sie sind ganz gut in Serbien integriert. Sie haben ihre Schulen in ungarischer Sprache, ihre Verlagshäuser, Radio- und Fernsehprogramme, Zeitungen, praktisch alles. Mit ihnen gibt es keinerlei Probleme. Keine Probleme gibt es auch mit den Slowaken, Bulgaren, Rusinen und anderen mehr. Ebensowenig ist das Problem im Kosovo ein Problem mit der albanischen nationalen Minderheit als ganzer. Die Albaner sind gute Leute und eine der gleichberechtigten nationalen Minderheiten in Serbien. Das Problem im Kosmet ist das Problem der separatistischen Bewegung eines Teils der albanischen nationalen Minderheit." Damit niemand auf den Gedanken komme, rein formell die Äußerungen von Milosevic mit denen der türkischen Machthaber über die Kurden in der Türkei und die ‘Terroristen' der PKK zuvergleichen und die weitgehende Identität festzustellen, hat einer der explizitesten Unterstützer der Position der serbischen Regierung, der Junge Welt-Redakteur W. Pirker, u.a. in einem Diskussionsbeitrag in der 'Sozialistischen Zeitung' (5/99) festgestellt: "Es gab und gibt keine nationale Unterdrückung der Albaner in Serbien. Die den Kosovaren in Tito-Jugoslawien eingeräumte Autonomie verlieh ihnen alle Privilegien (nicht aber den Status) einer Republik. Eine staatsrechtlich brisante Konstruktion, da das Kosovo damit zu einem Subjekt der Föderation wurde, obwohl es formell bei Serbien verblieb. Milosevic hat die De-facto-Spaltung Serbiens rückgängig gemacht. Die den Kosovo-Albanern zugestandenen Minderheitsrechte aber brauchen einen internationalen Vergleich auch weiterhin nicht zu scheuen." Abgesehen davon, wieweit dieses Bild der Realität entspringt -- immerhin heißt es sogar in einer Stellungnahme der KP Österreichs vom 15.April 1999 "Die seit Jahren andauernde Negierung demokratischer Rechte der albanischen Bevölkerungsgruppe im Kosovo und die Menschenrechtsverletzungen können weder geleugnet noch hingenommenwerden" --, ist es offensichtlich, daß wir es bei dieser ganzen Argumentation mit dem eifrigen Bemühen zu tun haben, die Diskussion im Rahmen der bürgerlichen Ideologie zu halten und insbesondere die Lenin'schen Argumente für das nationale Selbstbestimmungsrecht erst gar nicht zur Diskussion zustellen. Das gilt im übrigen natürlich auch für die Argumentation der KPÖ, in der der folgende Satz nämlich lautet: "Ebensowenig wie die Einmischung vonaußen zugunsten des bewaffneten UCK-Separatismus".

Die hier in ihren gemeinsamen Grundzügen dargelegte Argumentation aus alt- und neostalinistischen Kreisen wird im Kern auch von erklärt antistalinistischen Kräften übernommen. So heißt es etwa im ‘Maulwurf' (September/Oktober 1999), der Zeitschrift der orthodox-trotzkistischen und damit letztlich zumindest in Hinsicht auf die Einschätzung der staatskapitalistischen ‘realsozialistischen Staaten' als ‘deformierter Arbeiterstaaten' statt trotzkistischen pabloistischen ‘Revolutionären SozialistInnen': "Während Scharping, Fischer & Konsorten Milosevic zum neuen Hitler inkarnierten, legten sich neben der MLPD v.a. diverse ‘Trotzkisten' ins Zeug, mit einem abstrakten ‘Selbstbestimmungsrecht' die weitere Parzellierung des Balkan voranzutreiben, nachdem diese ‘Selbstbestimmung' bereits in anderen Teilen desehemaligen Jugoslawien zu ethnischen Säuberungen von allen Seiten geführt hat".

Eine andere Strömung, die der 'Antinationalen', deren Wortführer im übrigen nicht zufälligerweise oft ehemalige Kader volkstümlerischer ML-Gruppen sind, beseitigt das nationale Selbstbestimmungsrecht mit dem kaum zu bestreitenden Hinweis darauf, daß es nicht die Emanzipation des Individuums dient, wenn sich "Leute nicht als Arbeiter, Bäuerinnen, Psychiater oder StudentInnen betätigen" (Herbert Auinger: "Was wollt ihr denn unbedingtselbst machen?" in: Volksstimme (Wien 27.5.99). In diese Argumentation fällt auch die These, daß das nationale Selbstbestimmungsrecht sich als ein individuell nicht einklagbares grundsätzlich von so unterstützenswerten Rechten wie dem, seine Sprache sprechen zu können oder sich gewerkschaftlich zu organisieren, unterscheide. Aber schon über das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung, das ja jedem Linken am Herzen liegen sollte, wäre immerhin zu sagen, daß dieses wohl kaum dadurch zunichtgemacht werden kann, daß es nicht wenige Gewerkschaften auf dieser Welt gibt, deren Führung nicht nur faktisch in der Hand des Klassenfeindes liegt, sondern die von mafiaartigen Strukturen geprägt sind, in denen das einzelne Gewerkschaftsmitglied nichts zu sagen hat. Wird dadurch das Recht auf von den Kapitalisten und ihrem Staat freien Gewerkschaften hinfällig? Was diese formal ultralinke und deswegen in der Konsequenz rechte Sichtweise insbesondere auszeichnet, ist ihr akademischer Charakter, die Tatsache, daß sie das reale Bewußtsein von Menschen nicht nur kritisiert, wo es nötigist, sondern glaubt, daß es genüge, seine wirklichen oder vermeintlichen Defizite bloßzustellen.

All diesen Ansätze liegt letztlich ausgesprochen oder auch nicht die Illusion über den fortschrittlichen Charakter Tito-Jugoslawiens, in dem die nationale Unterdrückung angeblich aufgehoben war, und dessen diesbezügliches Erbe Slobodan Milosevic -- wenn auch vielleicht mehr schlecht als recht -- doch gegen die katastrophalen Folgen des Ethnizismus der anderen ehemaligen -- nichtserbischen -- Mitbürger des multinationalen Jugoslawiens verteidigt, an vorderster Front augerechnet im Kosova.

In Wirklichkeit begann unmittelbar nach dem Abzug der faschistischen Besatzer 1944 eine brutale Unterdrückung der Albaner seitens der Tito-Armee, eine Unterdrückung, die zwischen Dezember 1944 und Juni 1945 zu einem Aufstand führte und die in Form eines brutalen stalinistischen Polizeiregimes unter Innenminister Rankovic bis 1964 und in abgeschwächter Form bis 1974, als die Regierung in Belgrad dem Gebiet die Autonomie 'gewährte' andauerte. Diese vom serbischen Nationalismus als antiserbisch verstandene Entwicklung, beider es darum ging, durch die Autonomie des Kosovo und auch der Vojvodina Serbien gegenüber dem jugoslawischen Staatsverband zu schwächen, wurden jedoch nach Titos Tod 1980 schrittweise wieder umgekehrt. Die blutige Niederschlagung der Massendemonstrationen im Kosovo 1981, bei denen gleichermaßen eine Verbesserung der katastrophalen wirtschaftlichen Lage wie die Umwandlung der autonomen serbischen Region in eine gleichberechtigte Republik Jugoslawiens gefordert wurde, war das erste Zeichen, der serbisch-chauvinistische Massenauftrieb auf dem Kosovo Polje (Amselfeld) 1989 und die Aufhebung der Autonomie der nächste und wohl endgültige Schritt, der zur heutigen Situation führte (s. u.a. Gashi, D., Steiner, I.: Albanien. Wien 1994).

Es steht völlig außer Frage, daß die Gleichberechtigung aller Nationen und Völker eines der Ziele der sozialistischen Revolution ist, die damit eines der vielen nichterfüllten Versprechen der bürgerlichen Revolution erfüllt. Für Marxisten ist der Zweck der nationalen Gleichberechtigung nicht immerder gleiche gewesen. Zu Marxens Zeiten war die nationale Bewegung in erster Linie eine historisch fortschrittliche, weil sie ein Teil der bürgerlichen Revolution gegen die durch vorkapitalistische Verhältnisse bedingte und zementierte Zersplitterung war, die die Entwicklung eines national integrierten Marktes behinderte. Diesen fortschrittlichen Charakter haben die nationalen Bewegungen mit der weltweiten Herrschaft des Imperialismus verloren, weil der Imperialismus selbst Widerspiegelung der Tatsache ist, daß der Kapitalismus reaktionär geworden ist und nunmehr sein Sturz durch die weltweite Arbeiterklasse und seine Ersetzung durch den Sozialismus/Kommunismus auf der Tagesordnung steht, d.h. gleichermaßen möglich wie notwendig geworden ist. Die nationalistische Bewegung als eine bürgerliche steht dieser sozialistischen Zielsetzung entgegen. Neue Nationalstaaten können noch weniger als die alten die Aufgaben auch nur der bürgerlichen Revolution erfüllen.

Lenin verteidigte deswegen das nationale Selbstbestimmungsrecht vehement aus einem ganz anderen Grund. Er trat für die Einheit der internationalen Arbeiterklasse im Kampf ein und stellte fest, daß diese nur auf der Basis der Freiwilligkeit möglich ist. Lenin war sich im übrigen mit Marx, der das am Beispiel der Beziehung der englischen Arbeiterklasse und der irischen Befreiungsbewegung feststellte, darüber einig, daß die Leugnung des Selbstbestimmungsrechtes einer unterdrückten Nation durch die Arbeiterklasse der Unterdrücker nation diese an ihre Bourgeoisie fessele und damit ihre Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung unmöglich mache.

Denen jedoch, die aus der unbestreitbaren Tatsache, daß der Nationalstaat ökonomisch gesehen den Rahmen des Imperialismus nicht durchbrechen kann und im Vergleich zu Marxens Zeiten in dieser Hinsicht keine fortschrittliche Tendenz mehr berge, den Schluß zogen, das nationale Selbstbestimmungsrecht habe sich damit überlebt, schrieb Lenin ins Tagebuch: "Bei Gen. P. kommt es so heraus, daß er im Namen der sozialistischen Revolution das konsequent revolutionäre Programm auf dem Gebiet der Demokratie mit Geringschätzung beiseite schiebt. Das ist nicht richtig. Das Proletariat kann nicht anders siegen als durch die Demokratie, d.h. indem es die Demokratie vollständig verwirklicht... Es ist Unsinn, die sozialistische Revolution und den revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus, einer der Fragen der Demokratie, in unserem Fall der nationalen Frage, entgegenzustellen." (Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. 1915. LW Bd.21, S.415)

Den Anhängern der serbischen Staatlichkeit zufolge kann aber hier gar nicht von nationaler Unterdrückung die Rede sein. Es wird auf albanische Straßenschilder und Zeitungen im Kosovo verwiesen und eben auf den 'multinationalen' Charakter des jugoslawischen/serbischen Staates.

Wer heutzutage über derartige Probleme schreibt, sieht sich in der etwas unbefriedigenden Situation, daß er kaum Neues zum Besten geben kann, denn in der Tat wurde auch dieses Argument bereits von Lenin widerlegt. Er schrieb u.a.: "Dieses letzte Argument, Mitbestimmung statt Selbstbestimmung gefällt den polnischen Genossen so gut, daß sie es in ihren Thesen dreimal wiederholen! Aber die häufige Wiederholung verwandelt dieses oktobristische und reaktionäre Argument nicht in ein sozialdemokratisches. Denn alle Reaktionäre und Bourgeois räumen den Nationen, die gewaltsam innerhalb der Grenzen des betreffenden Staates festgehalten werden, das Recht ein, über sein Schicksal im gemeinsamen Parlament ‘mitzubestimmen'." (Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung. In: LW Bd.22, S.328).

Die Beschwörung der ‘Gleichberechtigung' durch Milosevic und die Forderungen nach der Wiederherstellung der 1989 von eben diesem Milosevic widerrufenen Autonomierechte für das Kosovo, die dort 1974 unter Tito eingeführt worden waren, gehören genau zu diesen ‘oktobristischen' und 'reaktionären' Argumenten. Sie übersehen geflissentlich die Tatsache, daß die Albaner des Kosovo nur deshalb Bürger Jugoslawiens oder Serbiens sind, weil sie von der serbischen Armee, die auch gerne noch über Tirana zum Mittelmeer vorgedrungen wäre, erobert wurden, wobei die Tatsache, daß diese Eroberung äußerst barbarisch vor sich ging, gegenüber dem Faktum, daß den Albanern im Kosovo damit seit damals das verwehrt wird, was die Serben selbst schon zuvor wahrnehmen konnten, das nationale Selbstbestimmungsrecht nämlich, unwesentlich ist. Seitdem jedenfalls haben die Kosova-Albaner wann immer sich dazu die Möglichkeit zu bieten schien, ihre Forderung nach nationaler Selbstbestimmung erhoben. Diese Tatsache betonte bereits 1914 nach dem zweiten Balkankrieg der Führer des revolutionären Flügels der serbischen Sozialdemokratie vor dem ersten Weltkrieg, Dimitrije Tucovic. In seiner Schrift ‘Serbien und Albanien', die dem serbischen Eroberungsversuch Albaniens von 1912/13 gewidmet war, dessen Überbleibsel das danach serbische Kosovo war, bezeichnete er die Politik der serbischen Bourgeoisie gegenüber den Albanern -- einschließlich der im Kosovo lebenden -- als kolonialistisch. Zusammenfassend schrieb er: "Wenn das albanische Volk bisher auch keine nationale Einheit war, die durch einen Gedankenimpuls mitgerissen und bewegt werden konnte, so liegt der gemeinsame Gedanke heute leider in der allgemeinen nationalen Revolte der albanischen Besiedlungen gegen das barbarische Vorgehen ihrer Nachbarn Serbien, Griechenland und Montenegro, einer Revolte, die ein großer Schritt im nationalen Erwachen der Albaner ist... Grenzenlose Feindschaft des albanischen Volkes Serbien gegenüber ist das erste wirkliche Resultat der Albanienpolitik der serbischen Regierung. Das zweite noch gefährlichere Resultat ist die Stärkung zweier Großmächte in Albanien, die am Balkan die größten Interessen haben." (Tucovic, D.: Serbien und Albanien. Hrsg. Arbeitsgruppe Marxismus. Wien 1999, S: 80)

Die Tatsache, daß die Albaner im Kosova mit vermutlich rund 90% der Bevölkerung die absolute Mehrheit darstellen -- im Gegensatz zu den Ungarn in der Vojvodina -- gibt Anlaß, auf einen weiteren Aspekt des bürgerlichen Charakters aller gegen ihr nationales Selbstbestimmungsrecht gerichteten Argumentationen hervorzuheben. Das gilt insbesondere auch für den Versuch, ihm die ach so demokratischen Gegebenheiten des 'multinationalen Staates' mit der Gleichberechtigung aller auf seinem Territorium lebender Volksgruppen entgegenzustellen. Zum einen hat Marx u.a. in der 'Kritik des Gothaer Programms' das 'gleiche Recht' als ein bürgerliches bezeichnet. Das gilt jedenfalls, wenn die ‘Rechtspartner' wie hier die Albaner und die Serben bereits in Hinblick auf das Recht der Eigenstaatlichkeit de facto grundlegend ungleich sind, eine Situation, die -- darauf hat u.a. Lenin verschiedentlich hingewiesen -- durch die 'Autonomie' keineswegs aufgehoben wird. Darüber hinaus aber muß auch die Parallelität zwischen den erwähnten Vorstellungen von der Gleichberechtigung der Volksgruppen in einem multinationalen Kosovo und der generellen bürgerlichen Konzeption der Demokratie festgestellt werden. Walter Daum schrieb dazu: "Die bürgerliche Konzeption der Demokratie war immer pluralistisch statt dem Mehrheitsprinzip verpflichtet. Eine wirkliche Herrschaft der Mehrheit würde in der kapitalistischen Gesellschaft offensichtlich die sich in der Minderheit befindende Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen die Arbeiterklasse bedrohen; daher heute die bürgerliche Propaganda, daß 'Arbeit' nur ein ‘Sonderinteresse' unter vielen anderen ist. Ebenso versuchten die ersten Republikaner, die die Verfassung der Vereinigten Staaten schrieben, bewußt die Konstituierung gefährlicher Mehrheiten zu verhindern. Ihr System wurde in den berühmten Regeln des ‘Gleichgewichts der Kräfte' und der ‘Gewaltenteilung' im Staatkodifiziert. Auf diese Weise institutionalisierten sie die inhärente Rivalität und das Mißtrauen zwischen den verschiedenen Zentren und unterschiedlichen Formen des Kapitals; sie produzierten eine Markt-Version des bürgerlichen Staates." (Daum, W.: The Life and Death of Stalinism: A Resurrection of Marxist Theory. New York 1990, p.123f.).

Nun kann natürlich nicht geleugnet werden, daß es im Kosovo zumindest zunächst keineswegs darum ging, durch ein solches System der formalen Gleichberechtigung aller dort lebender Gruppen -- einschließlich der Angehörigen der in diesem Fall serbischen Unterdrückernation -- speziell die albanische Arbeiterklasse zu unterdrücken. Hier geht es darum, einer unterdrückten Nation -- den Albanern, die im Kosovo keine ethnische Minderheit sind -- hinter dem Mantel demokratischer Gleichberechtigung diese gegenüber der serbischen Nation zu verweigern. Diejenigen, die das nicht zu durchblicken vermögen, sind zweifellos in den hier dargelegten Strukturen bürgerlichen Denkens verfangen.

Um hier kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Wir halten es auch hier mit Lenin, der schrieb: "Wir sind für die Autonomie für alle Teile, wir sind für das Recht auf Lostrennung (nicht aber für die Lostrennung aller!)... Im allgemeinen sind wir gegen die Lostrennung, aber wir sind für das Recht auf Lostrennung angesichts des erzreaktionären großrussischen Nationalismus, der die Sache des nationalen Zusammenlebens so sehr besudelt hat, daß manchmal die Bindung nach freier Lostrennung stärker sein wird!!" (LW 19, S.496). Wir sind für die Gleichheit, aber für wirkliche Gleichheit auf allen Ebenen. Die Gleichheit der nationalen Minderheiten im Kosovo wie der Roma oder der Serben in Form kultureller oder politischer Autonomie ist zufordern, kann aber nicht gegen die Forderung des Rechtes auf Gleichheit der Kosovo-Albaner mit der serbischen Nation in Form eines gegebenenfalls getrennten Staates ausgespielt werden.

Diese Tatsache bürgerlicher Denkstrukturen verwundert nicht weiter bei den Propagandisten der stalinistischen Schule. Das hervorstechendste Merkmal ihres ganzen Raisonnierens über den Jugoslawien-Krieg ist das, daß die Frage der Klasseninteressen der Arbeiterklasse aller dort lebenden Nationen völlig ausgeklammert wird. Der von ihnen vertretene Antiimperialismus gegen die NATO ist ein rein bürgerlicher. Hier wird das nicht-imperialistische Jugoslawien zu Recht gegen den Imperialismus verteidigt, das bürgerliche Regime Jugoslawiens aber in einem gegen alle mögliche Opposition gleich mit. Die Frage wieweit eine proletarische Opposition gegen dieses Regime zu unterstützen sei, stellt sich denen, die mit verschiedenen ‘linken' Fraktionen der Restbestände des stalinistischen Regimes in diesem Land kollaborieren, erst gar nicht.

Worauf aber beruht die im Ergebnis gleiche Haltung gewisser orthodoxer Trotzkisten, deren Orthodoxie sich wie gesagt mehr auf den Niedergangstrotzkismus eines Pablo oder Mandels bezieht als auf den Trotzkis selbst? Man kann sich schwer des Verdachtes erwehren, daß es die Stimmung des historischen Defaitismus ist, die -- natürlich durchaus nachzuempfinden -- Stimmung des Zynismus gegenüber der Möglichkeit revolutionärer Entwicklungen innerhalb der Arbeiterklasse in Jugoslawien und im Kosovo und nicht nur dort.

Auf dieser Grundlage wird nur noch eine Alternative gesehen: Die Aufrechterhaltung des alten jugoslawischen ‘multinationalen Staates' oder die ethnische Schlächterei. Es wird nicht gesehen, daß das multinationale Jugoslawien wie die UdSSR und die übrigen Ostblockstaaten im Zusammenhang mit der globalen Krise des kapitalistischen Weltsystems zusammengebrochen ist, deren schwaches Kettenglied diese Länder waren. Im übrigen stellt sich die Frage, welchen Charakter das Tito-Regime hatte, wenn es bis 1974 brauchte, um dem Kosovo auch nur eine Autonomie zu ‘gewähren'. Diejenigen, die offen oder verdeckt zu den alten Tagen des multinationalen Jugoslawiens zurückwollen, übersehen geflissentlich die Tatsache, daß die dort ‘gewährten' nationalen Rechte Herrschaftsinstrumente einer Klasse bürokratischer Unterdrücker waren. Angesichts dessen, was sie aber seit Beginn dieses Jahrzehnts sehen, sind sie derart erschrocken, daß ihnen nichts weiter einfällt als den alten Zustand wiederherzustellen, der die jetzige Barbarei zumindest nicht verhindern konnte.

Sie halten es offensichtlich auch für völlig undenkbar, daß die Position, die die internationale ‘Linke' oder -- um genauer zu sein -- die revolutionären Sozialisten einnehmen könnten irgendeine Auswirkung auf das Bewußtsein der Arbeiter und dann auch der Bauern und anderer kleinbürgerlicher Schichten in Serbien und vor allem auch im Kosova haben könnte.

Wie aber glauben sie, könnten die albanischen Massen anderen als den reaktionîren Ethnochauvinisten von der UCK folgen, wenn die serbische Arbeiterklasse in dieser Frage ihren eigenen Ethnochauvinisten und Unterdrückern der Albaner folgt und jedenfalls das Selbstbestimmungsrecht der Albaner im Kosovo leugnet und wenn überdies die internationale Linke genau das gleiche tut?

Um Ethnochauvinismus und ethnische Säuberungen in dieser Welt dort zu verhindern, wo sie auf Grund vielfältiger historischer und sozialer Faktoren real drohen, gibt es im Prinzip nur zwei Möglichkeiten: Die Ausrottung eines oder beider der beteiligten Völker oder die Anerkennung der völligen Gleichheit, mit anderen Worten: Barbarei oder Sozialismus. Moderne Stalinisten ebenso wie ‘orthodoxe Trotzkisten' und in dieser Frage 'ultralinke' antinationale Kleinbürger sind hingegen von der Wirklichkeit des Lebens im Imperialismus derart erschreckt, daß sie sich mit welchen Argumenten auch immer anvergangene bürgerlich-demokratische Zustände klammern.

Jede Position jedoch, die auf der Grundlage der Ignorierung der albanischen Erfahrungen mit der unterdrückerischen Politik der von 1912 bis heute herrschenden bürgerlichen Klassen Serbiens bezogen wird und die auch die Frage nicht thematisiert, was denn die historischen Grundlagen für den ‘Serbenhass' der Albaner ist, den die verschiedenen imperialistischen Mächte stets haben instrumentalisieren können, muß den Nationalismus der serbischen wie der albanischen Massen notwendigerweise stärken und dem Imperialismus damit neues Futter geben. Weil das schon immer sowar heißt es in den von Lenin formulierten 'Thesen zur nationalen Frage': "Der Umstand, daß die Sozialdemokratie das Recht aller Nationalitäten auf Selbstbestimmung anerkennt, verlangt von den Sozialdemokraten, ... c)daß sie einen unermüdlichen Kampf führen gegen Parteien sowohl der Schwarzhunderter und Oktobristen als auch der bürgerlichen Liberalen (‘Progressisten', Kadetten usw.), wo immer diese allgemein die nationale Unterdrückung in irgendeiner Form verteidigen und dulden oder insbesondere das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung leugnen." (LW Bd.19, S.234)

Wir sind uns natürlich bewußt, daß diese inhaltlich nicht zurückzuweisende Argumentation fürs erste nicht in der Lage sein wird, die aus der historischen Niederlage der Arbeiterklasse und ihrer revolutionären sozialistischen Bewegung herrührende defaitistische und kapitulantenhafte Stimmung zu brechen, deren Produkt in der fanatischen Verteidigung des ‘kleineren Übels' besteht. Wir sind uns aber sicher, daß die Geschichte dennoch in eine der beider Richtungen drängt, zum ‘größeren Übel' , der Barbarei, hin oder zur Aufhebung des Übels, zum Sozialismus hin und daß die heutigen Freunde des ‘kleineren Übels' zwischen diesen beiden Alternativen wählen werden oder zu Staub werden.

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