Argentinien, ein Land dessen Lebensstandard 1950 nur noch von den USA, Kanada, Großbritannien und Schweden übertroffen wurde, ist zu einem Dritte Welt Land herabgesunken. Gibt es irgendwelche Chancen, daß die neue Regierung das Land aus der Krise herausführt und die seit Jahren gemachten Versprechen des ‘take off' realisiert? Wenn nicht, gibt es eine Alternative außerhalb des Wechselspiels der bürgerlichen Parteien? A.Holberg sprach mit Daniel Bengoechea, verantwortlich für internationale Beziehungen bei der argentinischen 'Partido Obrero Revolucionario' (POR).

Die POR ist eine trotzkistische Organisation, die Ende 1999 an die LRP/COFI herangetreten ist, um einen Diskussionsprozess mit dem Ziel des gemeinsamen Kampfes gegen den Zentrismus und der Wiederherstellung der ‘Vierten Internationale' einzuleiten (vgl. ‘Reconstrucción de la IV Internacional: Informe sobre la reunión PORCOFI'. In: Masas No.144, 29.12.99). Wichtige Divergenzen bestehen in der Einschätzung der stalinistischen Sowjetunion und der stalinistischen Nachkriegsstaaten, die von der POR als ‘degenerierter' bzw. ‘deformierte' Arbeiterstaat/en eingeschätzt werden, während die KOVI sie als staatskapitalistische Staaten betrachtet, sowie in der Position zum Klassencharakter der Polizei.

Wir veröffentlichen dieses Interview, um dem Leser einen ersten Einblick in die politischen Positionen und die Arbeit dieser revolutionären Organisation zu ermöglichen.


Argentinien: Arbeiterrechte im Visier der neuen Regierung

A.H.: Seit dem 10. Dezember 1999 gibt es in Argentinien eine neue Regierung, eine Koalitionsregierung aus der ‘Unión Cívica Radical' und der MitteLinksPartei (Front für ein solidarisches Land). Dieses Bündnis hat die peronistische Regierung Carlos Menem gestürzt. Warum?

D.B.: Die Hauptgründe für das Scheitern des Peronismus sind die Unzufriedenheit der Arbeiterklasse und der Mittelklasse mit ihrer wachsenden Verarmung und mit der Korruption. Einerseits und die Spaltung des Peronismus zwischen Carlos Menem und dem offiziellen Kandidat der Peronisten, Eduardo Duhalde, zum anderen. Diese Spaltung war das Ergebnis der Tatsache, daß sich Menem nicht damit abfinden wollte, daß er dem argentinischen Gesetz zufolge nicht zum dritten mal als Präsident kandidieren durfte, daß er aber bis zum Schluß versuchte, dafür doch noch einen Weg zu finden. Menems Anhänger arbeiteten deshalb innerhalb der peronistischen Partei als eine Art ‘fünfte Kolonne' gegen Duhalde. Ein weiterer Grund für die Niederlage der Peronisten war die Unterstützung der herrschenden Klasser und ihrer Medien für das Oppositionsbündnis.

A.H.: Was für eine wirtschaftliche und soziale Lage hat der neue Präsident, Fernando de la Rua, vorgefunden?

D.B.: Die neue Regierung ist mit einer Katastrophe konfrontiert. Der Staat ist praktisch bankrott. Die Auslandsschulden haben eine solche Höhe erreicht, daß überhaupt nicht daran zu denken ist, daß sie je zurückgezahlt werden können. Argentinien steckte und steckt in einer tiefen Rezession. Die Arbeitslosigkeit hat die 20% erreicht, für unser Land ein Rekord. Schlimmer noch: die Exporteinnahmen fallen wegen des Sinkens der Preise für unsere Rohstoffe und wegen der Wirtschaftskrise im benachbarten Brasilien, einem der wichtigsten Kunden unseres Landes. Die Situation kann nur schlechter werden.

A.H.: Hat De la Rua irgendeine Politik anzubieten, die sich von der Menems unterscheidet?

D.B.: Leider nein. Er vertritt die gleiche Politik wie Menem. In der Tat hat er sogar einige Minister von Menems Regierung übernommen, wie z.B. ehemaligen stellvertretenden Wirtschaftsminister, der jetzt Erziehungsminister ist. De la Rua wird die Privatisierung des Staatssektors, der Industrie wie der staatlichen Dienstleistungen, fortsetzen. Darüber hinaus hat er die Mehrwertsteuer erhöht, die privaten Krankenversicherungen besteuert, was die meisten Argentinier betrifft, weil sie einschließlich eines Großteils der Arbeiterklasse davon abhängen, den Benzinpreis erhöht und die öffentlichen Ausgaben gestrichen. Als notwendige Abstützung für diese Maßnahmen hat er die Arbeiterklasse direkt angegriffen. Er betreibt eine Deregulierung des Arbeitsmarktes, greift das Recht, sich zu organisieren, an, liberalisiert die Märkte und streicht die Zuschüsse für die ärmsten Provinzen. Gegenwärtig versucht die Regierung gerade ein neues Arbeitsgesetz durch das Parlament zu bekommen. Dieses Arbeitsgesetz stellt einen so massiven Angriff auf die Arbeiterklasse dar, wie es sich nicht einmal Menem getraut hat. Unter anderem soll das Prinzip der Industriegewerkschaft zu Gunsten von Betriebsgewerkschaften gekippt werden, das heißt die Bourgeoisie soll es hinfort nicht mehr mit einer großen Gewerkschaft in einer Branche zu tun haben, sondern mit einer gewaltigen Zahl kleiner und kleinster Gewerkschaften in je einem Betrieb. Weiter soll das Kapital in Zukunft das Recht erhalten, einseitig Tarifverträge durchzusetzen, wenn es sich mit der Gewerkschaft nicht einigen kann. Darüber hinaus müssen die Gewerkschaften in Zukunft die Regierung um Erlaubnis fragen, ob sie streiken dürfen, und einige Sektoren wie das Transportwesen dürfen überhaupt nicht mehr streiken. Weiterhin sollen in Zukunft Neueingestellte eine einjährige Probezeit haben, in der sie nicht Mitglied einer Gewerkschaft sein dürfen. Aus Regierungssicht ist der Zweck des ganzen, die Arbeitskosten zu senken, um die argentinische Wirtschaft konkurrenzfähiger zu machen.

Um Demonstrationen gegen diese Politik zu verhindern, verschärft die Regierung die Repression. Gerade einmal zwei Wochen nach Amtsantritt hat die Regierung, als sie mit Demonstrationen in der Provinz Corrientes im Nordwesten konfrontiert war, wo die Leute die wichtigsten Durchgangsstraßen blockierten, die Gendarmerie auf die Menschen losgelassen. Die Repression fand unter der Leitung eines Mitglieds einer darauf spezialisierten Sondereinheit zur Zeit der letzten Militärdiktatur statt. Im Ergebnis wurden zwei Menschen umgebracht.

Der argentinische Gewerkschaftsbund CGT hat zu einer Demonstration auf der Plaza de Maya vor dem Regierungspalast aufgerufen, jedoch nicht zu einem landesweiten Streik. In der Presse versucht die CGT die Regierung damit unter Druck zu setzen, daß sie den Nichtaufruf zum Streik mit den ihm innewohnenden Gefahren für die Stabilität des Landes begründet.

A.H.: Unter Perón war der Peronismus eine populistische und sehr populäre Strömung im NachkriegsArgentinien. Was ist der Unterschied zwischen dem heutigen Peronismus und dem historischen Vorbild?

D.B.: Zunächst einmal möchte ich sagen, daß der Peronismus immer noch eine sehr populäre Angelegenheit mit großem Einfluß innerhalb der Arbeiterklasse ist. Bei den letzten Wahlen erhielt diese Strömung 40%, was ein historisches Tief ist, aber das heißt auch, daß die peronistische ‘Justizionalistische Partei' immer noch die stärkste Partei im Land ist.

Darüber hinaus kontrolliert sie noch über 60% der Provinzregierungen. Der Peronismus hat seinerzeit in einem bestimmten historischen Moment einen Sektor der argentinischen Bourgeoisie repräsentiert, der ein Industrialisierunsprogramm vertrat und eine vom Imperialismus unabhängige Entwicklung. Um das zu tun, machte Perón der Arbeiterklasse vorallem während seiner ersten Regierungszeit 194652 viele Zugeständnisse, teilweise sogar noch bis zum Militärputsch 1955.

Aber es war natürlich von Anfang an klar, daß der Peronismus bei diesem Versuch schließlich nicht erfolgreich sein konnte. Wie von Lenin und Trotzki schon theoretisch dargelegt und durch den Klassenkampf in diesem Jahrhundert praktisch bewiesen, müssen der Kampf für nationale Unabhängigkeit und für Sozialismus in der gegenwärtigen Epoche des kapitalistischen Niedergangs, in der die Tendenzen des Kapitalismus zur Konzentration und Zentralisation der Produktion das Stadium der Monopolisierung erreicht haben, Hand in Hand gehen. Da der Peronismus eine bürgerliche Bewegung ist, hat er dem Sozialismus immer mißtrauisch gegenübergestanden. In der Tat ergriff Perón in seiner zweiten Regierungszeit (195255) Maßnahmen gegen die Arbeiterklasse, und in seiner dritten Regierungszeit (197374) trat er offen gegen die Arbeiter auf und spielte eine proimperialistische Rolle. Bis jetzt haben wir in der Tat noch nie eine derart arbeiterfeindliche und proimperialistische Regierung gehabt wie die von Menem. Sie hat die argentinische Wirtschaft so vollkommen zerstört, daß sogar die nationale Bourgeoisie in ihren letzten Zügen liegt.

Aber zwischen der Rolle, die Menem gespielt hat, und dem historischen Peronismus gibt es keinen Widerspruch. Die Entwicklung des Peronismus spiegelt die der Ökonomie wider. Auf Grund der wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten des Imperialismus nimmt die Abhängigkeit der einheimischen Bourgeoisie von ihren imperialistischen Herren Jahr für Jahr zu und ihre Parteien spiegeln das wider. In Lateinamerika gibt es anderswo parallele Entwicklungen, die der APRA in Peru, der MNL in Bolivien oder der PRI in Mexiko.

A.H.: Wie ist die Reaktion der argentinischen Arbeiterklasse?

D.B.: In den letzten Jahren hat die Arbeiterklasse kontinuierlich gegen die Angriffe der Bourgeoisie und ihrer Regierung auf ihre Arbeitsplätze, das Gesundheitssystem, das Erziehungssystem etc. gekämpft. Aber diese Kämpfe leiden unter zwei Schwachpunkten. Die erste ist die, daß die meisten Gewerkschaften und Massenorganisationen von einer Bürokratie kontrolliert wird, die entweder dem Peronismus oder der gegenwärtigen Regierung gegenüber loyal ist. Diese Bürokratie weigert sich im Interesse ihrer Machterhaltung, die Kämpfe zu zentralisieren und zu politisieren. Die zweite Schwäche ist die, daß wo die Massen mit ihren bürokratischen Führern gebrochen haben, die Kämpfe einen empirischen und spontanen Charakter haben und sich die Massen nur auf der Ebene von Basisorganisationen zusammentun. Aus diesen Gründen hat es in den letzten Jahren Hunderte von Kämpfen gegeben, die voneinander isoliert geblieben sind. Die Linke, vorallem die reformistische Linke, die Nur an Wahlmanöver denkt, hat in dieser Hinsicht natürlich auch nichts ernsthaft unternommen.

A.H.: Die argentinische Linke war in der Vergangenheit eine starke Kraft und mußte von der Armee blutig unterdrückt werden. Wie ist die Lage heute? Welche sind die stärksten Organisationen und welche Politik vertreten sie?

D.B.: Der Militärputsch von 1976 war nicht in erster Linie gegen die linken Parteien gerichtet, sondern gegen die fortschrittlichsten Teile der Arbeiterklasse und einige intellektuelle Kreise mit dem Ziel, eine revolutionäre Lösung der politischen Krise zu verhindern, in der die reaktionäre peronistische Regierung unter Isabel Perón, der Witwe Peróns und VizePräsidentin von 1973, die die Regierung nach Peróns Tod übernahm, verstrickt war. Natürlich wurden die meisten linken Parteien Opfer der von den Militärs ausgeübten brutalen Repression. Trotzdem unterstützten zunächst einige dieser Parteien, wie die ‘Kommunistische Partei' und die sich auf verstorbenen Nahuel Moreno, der sich als Trotzkist bezeichnete, zurückführende ‘Sozialistische Arbeiterpartei' (PST)* die Militärregierung. Seit der Rückkehr der Demokratie hat es keine wirklich tiefgehende Bilanzierung innerhalb der Linken bezüglich der von ihr in den sechziger und siebziger Jahren verfolgten Politik gegeben. Alle vertreten zwar die Auffassung, daß das Militärregime proimperialistisch und gegen die Arbeiterklasse gerichtet gewesen sei. Die meisten von ihnen jedoch, diejenigen, die damals die Methode des Guerillakampfes praktizierten, eingeschlossen, erkennen aber nicht an, daß ihre Politik der Volksfront und Klassenzusammenarbeit die Niederlage der Arbeiterklasse vorbereitet hatte. Deshalb praktizieren die meisten von ihnen auch heute eine reformistische Politik und machen sich mehr Sorgen um Wahlen als um die Klassenkämpfe, die auf der Straße stattfinden. Unter diesen Kräften ist die größte die ‘Vereinigte Linke' (IU), eine Front aus der KP und der morenistischen ‘Sozialistischen Arbeiterbewegung' (MST), die sich ebenfalls auf den Trotzkismus berufende 'Arbeiterpartei' (PO) und die ‘Arbeiterpartei für den Sozialismus' (PTS), die guevaristische ‘Freie Heimat' (Patria Libre, PL) und die maoistische ‘Partei der Arbeit und des Volkes' (PTP). Sie alle sind verglichen mit denen vor der Diktatur kleine Organisationen. In der Tat haben bei den jüngsten Wahlen alle zusammen mit Ausnahme der letztgenannten, die an den Wahlen nicht teilgenommen hat, weil sie sich im Schlepptau der De la Rua Koalition befand, nur 2,5% der Stimmen erhalten.

Unsere Partei, die ‘Revolutionäre Arbeiterpartei' (POR) glaubt, daß diese Kräfte heute objektiv Hilfstruppen der herrschenden Klasse sind und das Haupthinderniß für die Unabhängigkeit der Arbeiterklasse darstellen. Was uns selbst betrifft, nun, wir sind eine kleine trotzkistische Partei mit einigem Einfluß in der Arbeiterklasse und bei den Studenten, weil wir in den 10 Jahren unserer Existenz immer für die Organisierung und Erziehung der Vorhut der Arbeiterklasse gearbeitet haben und für die Wiedererrichtung der Vierten Internationale. Im Gegensatz zum Rest kämpfen wir stets offen gegen den Verrat der gegenwärtigen Führung der Arbeiterklasse, und wir haben uns auch nie an Wahlblöcken mit bürgerlichen Kräften beteiligt wie das die 'Vereinigte Linke' tut. Anders als PL und PTP das in den vorletzten Wahlen getan haben, haben wir uns auch nie mit rechten Kräften unter dem Vorwand verbündet, sie kämpften gegen den Imperialismus. Abgesehen von der PTS stellen alle übrigen dauernd gemeinsame Listen mit der linken Bürokratie innerhalb der Arbeiterbewegung auf, um die Gewerkschaften unter ihre Kontrolle zu bekommen, und das tun wir auch nicht. Die PTP und die CPL beispielsweise haben aus diesem Grund sogar schon mehrfach Streiks abgebrochen, um die Unterstützung dieser linken Bürokratie nicht zu verlieren. Mit der PTS haben wir oft Aktionseinheiten, obwohl sie einerseits opportunistisch gegenüber ihrer MittelklasseStudentenbasis sind und außenpolitisch oft ultralinks. Im übrigen haben die anderen Parteien samt und sonders kein schriftliches Programm, ein deutliches Zeichen des Zentrismus, denn das erlaubt es ihnen um so leichter, jeden prinzipienlosen Schritt zu machen, nur um sich organisatorisch zu stärken.

Das wird auch von unserer eigenen Bourgeoisie anerkannt, die unsere Partei von den Wahlen ausgeschlossen hat. Der Grund dafür ist der, daß es in Argentinien ein Parteigesetz gibt, das noch aus der Zeit der Militärdiktatur stammt und dem unser Statut zuwiderläuft. Dazu gehört, daß wir das Recht auf Privateigentum nicht anerkennen und die Anwendung von Gewalt nicht grundsätzlich ablehnen, denn wir treten für die Diktatur des Proletariats ein und sagen ausdrücklich, daß die bürgerliche Demokratie nur eine besondere Form der Herrschaft des Kapitals ist. Wir weigern uns auch, die verlangte Liste mit den Namen der Mitglieder unserer Partei einzureichen. Wir lehnen die zentristische Vorstellung ab, daß eine Partei ein Statut für den internen Gebrauch und eines für die Öffentlichkeit haben könne. Die POR ist deshalb nicht nur von den Wahlen ausgeschlossen, sondern eine illegale Partei.

Das alles mag sich etwas sektiererisch anhören. Unsere Praxis ist aber von jedem Sektierertum weit entfernt, denn wir sind immer eng mit den Massen verbunden und praktizieren die Politik der Arbeitereinheitsfront, mit dem Ziel die besten Kräfte der Arbeiterklasse für das kommunistische Programm zu gewinnen. Wenn innerhalb der argentinischen Linken jemand sektiererisch ist, dann solche aus der Gruppe der erwähnten reformistischen Kräfte, die mit dem Ziel, bei den Wahlen Stimmen zu gewinnen, immer wieder die Arbeiterklasse betrogen haben. Bestes Beispiel dafür ist, daß etwa die linkeren PO und PTS die Angewohnheit haben, ständig die Bewegungen zu spalten, wenn sie sie nicht führen können, oder wenn sie zusammen in einer aktiv sind. Diese Gruppen fechten ihre Konkrrenz sogar gewalttätig aus. Zur Zeit hat die PO die MST und die CPL vor Gericht gebracht, weil diese PO-Mitglieder geschlagen haben.

A.H.: Es wird oft gesagt, daß die faschistischen Militärputsche mit ihrer Politik der ‘nationalen Sicherheit', die Arbeiterklasse dermaßen traumatisiert habe, daß sie von revolutionärer Politik nichts mehr hören wolle. In dieser Zeit gab es 30.000 ‘Verschwundene', von denen nicht wenige umgebracht worden, 10.000 politische Gefangene und Tausende politischer Flüchtlinge, wobei die meisten Opfer einfache Mitglieder der klassenorientierten Gewerkschaftsbewegung und Anhänger der linksperonistischen Guerillabewegung der ‘Montoneros' waren. Die KP hatte etwa 100 ‘Verschwundene' (desaparecidos) und die morenistische PST 50 zu beklagen. Ist das wirklich ein Faktor für die organisatorische und politische Entwicklung der Linken?

D.B.: Ich glaube nicht, daß das wirklich ein Faktor ist. Die argentinische Arbeiterklasse hat seit den letzten Jahren der Diktatur eine Menge wichtiger Kämpfe geführt. So wurde Anfang der 80er Jahre das Ford Werk in Pacheco zwei Monate lang besetzt. 1987 streikten die Lehrer über 70 Tage lang und 200.000 kamen zu einer Demonstration dem sogenannten ‘Weißen Marsch', weil die Lehrer wie die Ärzte weiße Kittel tragen, nach Buenos Aires. 1989 gab es einen landesweiten Aufstand, in dem die Arbeiter die Fabriken und die Studenten die Universitäten besetzten und die Massen der Armen die Geschäfte plünderten. Dieser Aufstand führte zum Rücktritt von Präsident Alfonsin. In den letzten 20 Jahren gab es 30 Generalstreiks bei uns. Im vergangenen Jahr den Eingangs erwähnten Aufstand in Corrientes, dem in den Jahren unmittelbat zuvor solche in Santiago del Estero, Neuquen, Tucuman und anderen Orten in den verschiedensten Provinzen vorhergegangen waren. Trotz ihres defensiven Charakters zeigen all diese Kämpfe, daß die Arbeiterklasse nicht demoralisiert ist. Darüber hinaus zeigt uns unsere tägliche Arbeit, daß wachsende nach einer Zeit der Verwirrung nach dem Zusammenbruch des Stalinismus vor 10 Jahren wachsende Teile der fortgeschrittendsten Arbeiter offen für sozialistische Ideen sind. Um zu verstehen, daß diese Avantgarde nicht in einer Partei organisiert ist, die sozialistische Ideen verteidigt, müssen wir zurückgreifen und noch einmal über die reformistische Linke sprechen. Deren opportunistische Politik und die Niederlagen, in die sie damit die Massen geführt haben, hat bei diesen ein Mißtrauen gegenüber diesen Organisationen herbeigeführt. Das und nicht die Tatsache, daß die Massen nichts von Sozialismus hören wollen, ist das größte Hinderniß für den Kampf dieser Massen um ihre Befreiung.

A.H.: Inwieweit vertritt die POR auch zu außen politischen Fragen besondere Positionen, in Lateinamerika etwa zum ChavezRegime in Venezuela, zur Volksbewegung in Ecuador, zur Guerilla in Kolumbien, anderenortes zum JugoslawienKrieg oder zu Tschetschenien?

D.B.: Fangen wir mit dem den deutschen Leser besonders interessierenden JugoslawienKrieg an. Unsere Partei verteidigt das Recht auf nationale Selbstbestimmung unterdrückter Minderheiten. Deshalb haben wir das Recht der Albaner auf ein unabhängiges Kosova unterstützt. Als allerdings die NATO Jugoslawien bombardierte, sind wir bedingungslos für die Niederlage der NATO eingetreten und haben zusammen mit anderen Gruppen wie der brasilianischen LBI antiimperialistische Aktionseinheiten zur Verteidigung Jugoslawiens vorgeschlagen. Wir glauben, daß dieses Land vom Imperialismus zu befreien auch die Unterdrückung beenden wird, die den serbischen Chauvinismus hervorbringt und damit bessere Möglichkeiten schafft, Milosevic loszuwerden. Ohne daß die NATO aus der Region vertrieben wird, werden weder die KosovaAlbaner noch andere Völker der Region ihre Forderungen realisieren können. Um das allerdings tun zu können, müssen sie natürlich mit ihren prokapitalistischen und proimperialistischen Führern brechen und den Weg der proletarischen Revolution einschlagen. Das Gleiche gilt im Prinzip für Tschetschenien, dessen Recht auf Unabhängigkeit wir verteidigen. Aber auch hierfür ist die Voraussetzung eine neue Oktoberrevolution und die Wiedererschaffung einer UdSSR.

Kolumbien und Ecuador sind zusammen mit Venezuela und Mexiko die lateinamerikanischen Länder, in denen in den letzten Jahren die interessantesten politischen Entwicklungen stattfanden. Bezüglich Kolumbiens fordern wir den Stop der Intervention des USImperialismus. Wir treten für einen gemeinsamen Kampf der Arbeiterbewegung mit der militärischen Offensive der Guerilla ein, um die PastrañaRegierung zu stürzen und die bürgerliche und imperialistische Herrschaft zu beseitigen. Das heißt nicht, daß wir die Guerilla politisch unterstützen. Die Guerilla hat ein reformistisches Programm und möchte über die Friedensverhandlungen zu einem Kompromiß mit der alten reaktionären Ordnung kommen. Wir verteidigen sie jedoch gegen die Angriffe seitens der USA und der kolumbianischen Armee. Angesichts der VolksfrontStrategie der beiden Guerillaorganisationen sagen wir, daß die Arbeiterklasse und die Bauern ihre eigene revolutionäre Partei brauchen, die für einen Staat der direkten Arbeiterdemokratie kämpft. Die kleinbürgerliche Guerilla hingegen kämpft für einen ‘unabhängigen' kapitalistischen Staat.

Was den Aufstand in Ecuador anbelangt, so konnten die Massen zwar der MahuadRegierung eine Niederlage zufügen, nicht aber ihre Aktionen gegen das kapitalistische Regime selbst richten. Die politische Opposition und die Gewerkschaftsbürokratie konnte deshalb die Bewegung wieder deaktivieren und ihr schließlich die Spitze abbrechen. Die Frage ist, wie lange dieser Zustand angesichts der fehlenden Möglichkeiten des Regimes, angesichts der Krise des Landes zu manörieren, anhalten wird. Wir treten für eine Einheitsfront mit dem Ziel der Schaffung von Organen der Doppelherrschaft ein, in der Arbeiter, Bauern und die plebischen Teile der Armee vereinigt sein müssen. Diese Front muß insbesondere Maßnahmen wie die Verstaatlichung des großen in und ausländischen Eigentums durchführen.

Die Situation in Venuezuela hingegen ist eine andere. Hier sind die Massen nicht auf der Straße. Während ein Großteil der Linken Hoffnungen in Chavez setzt, arbeitet dieser ungeachtet gewisser Differenzen mit den USA in Hinblick auf Kolumbien daran, das bürgerliche Eigentum zu schützen und die Arbeiterbewegung zu desorientieren. Mit seiner neuen Verfassung hat er sogar das Recht auf freie gewerkschaftliche Organisation beseitigt. Wir glauben auch nicht, daß Chavez seine Drohungen gegen die USA, von denen die Erdölindustrie Venezuelas abhängt, in die Tat umsetzen wird. Um gegen die USA vorgehen zu können, müsste seine Regierung gegen die Interessen der einheimischen Bourgeoisie vorgehen, und daran denkt Chavez überhaupt nicht. Er wird statt dessen die Massen, die ihn heute unterstützen, in dem Moment, wo diese für ein besseres Leben kämpfen, zu erdrücken suchen. Wenn die Arbeiterklasse ihre Hoffnung in Chavez setzt, bereitet sie ihre eigene Niederlage vor. In Mexiko haben sich die Zapatisten als loyale Unterstützer der bürgerlichen Oppositionspartei PRD gezeigt und kämpfen nur für ein paar kosmetische Verbesserungen. Die Studentenbewegung hingegen hat die Regierung wirklich herausgefordert. Der vom Allgemeinen Streikrat organisierte Streik ist ein Beispiel für alle Mexikaner. Jetzt kommt es darauf an, daß die Studenten gemeinsame Organisationen mit den Arbeitern entwickeln, die sie während des Streiks auf den Straßen unterstützt haben. Natürlich ist es ohne die Schaffung einer revolutionären Arbeiterpartei unmöglich, mehr als Teilsiege zu erringen.


*Zum Ende der Diktatur hat diese Partei ihren Namen in ‘Bewegung zum Sozialismus hin' (Movimiento al Socialismo, MAS) abgeändert. Nachdem sie mit der KP einen Wahlblock gebildet hatte, wurde eins ihrer Mitglieder in den Kongreß gewählt. Er war das einzige "trotzkistische" Parlamentsmitglied in der Geschichte Argentiniens. Dann zerbrach diese Partei in mehrere Stücke. Zur Zeit sind die größten davon die ‘Sozialistische Bewegung der Arbeiter' (MST) und die ‘Arbeiterpartei für den Sozialismus' (PTS). Rückkehr


Die POR ist zu erreichen unter http://www.geocities.com/pormasas/ und pormasas@geocities.com. Die website enthält Texte auf Spanisch, Portugiesisch und Englisch. EMails können aber auch auf Deutsch beantwortet werden. KOVI Dokumente | KOVI-BRD Home | E-mail