Im Internen Bulletin Nr.6, Juli 1938, ward das folgendes Dokument der Sitzung des Nationalen Komitees der SWP in New York, 22. bis 25. April 1938, abgedruckt. Es ward aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche von Nikolaus Brauns und Johannes Schneider übergesetzt.


Thesen zur jüdischen Frage

Vom Politischen Komitee der SWP verabschiedet

1. Unsere Herangehensweise ist der Klassenkampf

Unsere Herangehensweise an die jüdische Frage kann nur die des internationalen Klassenkampfes sein. In ihrem Todeskampf erhält die kapitalistische Klasse ihre Herrschaft aufrecht, indem sie zur ungezügelter Brutalität und Gewalt gegenüber der Arbeiterklasse und vor allem deren Vorhut Zuflucht nimmt. Sie bedient sich dabei jeder Art von Hass und Vorurteilen, die sie entfachen kann, um Zwietracht unter den Massen zu sähen und die soziale Basis für ihre faschistische, kriminelle Herrschaft zu errichten. Weil die Juden überall nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung bilden, und weil der Antisemitismus mal in offener, dann wieder in maskierter Form immer am Leben gehalten wurde, stellen die Juden einen einfachen Sündenbock dar, auf den die Großbourgeoisie den angestauten, gefährlichen Zorn der rückständigen Teile der Massen und im besonderen der verzweifelten Mittelklassen ableiten kann. Die faschistischen Söldlinge der Großbourgeoisie bedienen sich der niederträchtigsten Lügenpropaganda um die latente Abneigung gegenüber den Juden bis zum Pogromklima anzuheizen. Gerade weil das Schüren des Antisemitismus ein unverzichtbarer Bestandteil der Methoden der faschistischen Reaktion geworden ist, hat die revolutionäre Partei eine doppelte Pflicht, ihn zu bekämpfen. Sie hat die Pflicht, die hinter einer Nebelwand des Antisemitismus verborgen wirklichen Absichten der Kapitalisten zu entlarven und die Massen gegen dieses Gift zu impfen; sie hat weiterhin die besondere Aufgabe, eine wirkliche Verteidigung für die bedrohten Juden zu organisieren, eine Verteidigung, die notwendigerweise auf der Macht der organisierten Arbeiterklasse beruht. Wenn diese Aufgaben richtig durchgeführt werden, dann können wir gleichzeitig hoffen, die jüdischen Massen zu unserer festen Unterstützung zu gewinnen.

2. Demokratie, Assimilation und die Juden

Die Geschwindigkeit politischer und gesellschaftlicher Demokratisierung während der fortschrittlichen Periode des Kapitalismus in den entwickelten Ländern schien der Hoffnung Nahrung zu geben, dass die Juden mit der Zeit vom Rest der Bevölkerung nicht mehr unterscheidbar würden - dass sie kurz gesagt assimiliert würden. Am weitesten ging dieser Prozess in Deutschland und den USA. Im Gegensatz dazu hat der gegenwärtige Niedergang des Kapitalismus im Weltmaßstab und in jedem einzelnen Land die Assimilierungsbewegung nicht nur stocken lassen, sondern sogar deren beschleunigte Umkehr hervorgerufen. Um das Privateigentum und die Ausbeutung der werktätigen Massen zu verteidigen, bedient sich der nationale Kapitalismus der Ideologie des Nationalchauvinismus. Dieser wird zur Grundlage des totalitären Staats. Im Namen des Nationalchauvinismus wird der Arbeiterklasse vollständig ihre demokratischen Rechte genommen. Im Austausch für ihre Rechte werden die Massen zum ungehemmten Schauspiel des Antisemitismus zugelassen. Die reaktionären Maßnahmen, die gegen die Juden in Deutschland und Österreich ergriffen wurden und so viele von ihnen in den Selbstmord treiben, sind ein Maß, um zu erkennen, wieweit der verrottete Kapitalismus ins Mittelalter zurückschreitet. Auf einen Schlag wurden die Juden nicht nur ihrer demokratischen Rechte als Bürger beraubt, sondern zugleich der elementaren Möglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In dieser scheußlichen Weise endet die kapitalistische Demokratie ohne lang genug existiert zu haben, um die Assimilierung zu ermöglichen.

Viele Juden - und nicht nur Juden - täuschen sich mit der Beruhigung, dass Amerika anders sei, dass diese Erscheinungen hier nicht geschehen könnten. Sie stellen die Vereinigten Staaten weiterhin als einen großen Schmelztiegel mit einer Demokratie dar, die weitaus sicherer verwurzelt sei, als es die europäische Demokratie war. Aber die Juden und die gesamte Arbeiterklasse müssen vorgewarnt sein - die selben Ursachen, die zum Niedergang geführt haben, sind sichtbar auch hier an der Arbeit, und die selben Ergebnisse sind nicht nur möglich, sondern absolut unvermeidbar, wenn die Arbeiterklasse nicht lernt - und sie muss schnell lernen, ihre hartverdienten Rechte zu verteidigen und den Weg zur Macht zu gehen. Die zweite Krise, die die Auswirkungen der ersten Krise noch zuspitzt, lässt die herrschende Kapitalistenklasse in einer ernsthaften Klemme und Verlegenheit über einen Ausweg sorgen. Zweifelsohne ist sie um die Fortdauer ihrer Herrschaft besorgt und zieht die Unvermeidbarkeit einschneidender Maßnahmen - faschistischer Maßnahmen - in Betracht. Die Symptome von wachsender Diskriminierung der Juden, von Antisemitismus, sind schon vorhanden. Wir müssen unverzüglich die Alarmglocke schlagen, damit die Arbeiterklasse wachsam gegenüber den reaktionären Verschwörungen der Großbourgeoisie ist; insbesondere müssen wir die jüdischen Massen aufrütteln, damit sie die Gefahr erkennen und vor allem müssen wir die nötigen Maßnahmen vorschlagen, die gegen die wachsende Gefahr ergriffen werden müssen.

3. Die Brücke vom jüdischen Nationalismus zum Klassenkampf

Die Schläge, die den Juden in einem Land nach dem anderen versetzt werden, haben zu einem Wiederaufleben der zionistischen Bewegung und der von vielen vorgeschlagenen nationalen Lösung für die Juden geführt. Was ist unsere Haltung gegenüber Palästina als einem Heimatland für die Juden? Die Vierte Internationale hat sich die Unterstützung des Proletariats für den Kampf unterdrückter Nationalitäten um Selbstbestimmung auf ihr Banner geschrieben. Aber die internationale Zerstreuung der Juden schafft ein besonders Problem, das es in dieser Form für keine andere Nationalität gibt. Palästina ist ein Land, dass bereits von einem einheimischen Volk, den Arabern, bewohnt wird. Palästina, als Teil der kapitalistischen Welt betrachtet, kann nichts anderes sein, als die Katzenpfote des Imperialismus, in der gegenwärtigen Zeit insbesondere des britischen Imperialismus. Die Geschichte Palästinas in der Generation seit dem Krieg war genau die gleiche Geschichte der Klassenausbeutung, wie in allen kapitalistischen Ländern. Die Arbeiter in Palästina haben alle Übel des Kapitalismus zu erleiden gehabt.

Wir knicken keineswegs gegenüber dem jüdischen Nationalismus ein und betonen folglich all diese Tatsachen. Aber wir müssen versuchen, eine Brücke zu bauen zwischen den unterdrückten jüdischen Massen, die zum jüdischen Nationalismus tendieren und dem Proletariat, insbesondere seiner Vorhut in der Vierten Internationale. Wir müssen den jüdischen Nationalisten klarmachen, dass es selbst zur Durchführung ihres Ideals, ihrer Lösung, notwendig ist, zuerst die Welt des Kapitalismus zu beseitigen. Die Lösung der nationalen jüdischen Frage und der sozialen Frage der Arbeiterklasse ist eine gemeinsame: die Überwindung des Kapitalismus. Die Juden sind in einer unlösbaren Sackgasse angelangt, weil der Kapitalismus in einer Sackgasse angelangt ist. Nur durch den Klassenkampf werden die Juden einen Weg in die Zukunft finden. In dem wir eine solche Brücke bauen, können wir Lenins Ziel erreichen, dessen Akzeptanz der Formel von der Selbstbestimmung neben anderen Dingen ein weiteres Mittel zur Mobilisierung aller Unterdrückter Seite an Seite mit den Arbeitern gegen den das kapitalistische System bedeutete. Nationale Unterdrückung ist nicht die geringste Form der kapitalistischen Unterdrückung.

4. Der Kampf für eine uneingeschränkte Einwanderung

Angesichts der schrecklichen Not der Juden muss es ein spezieller Punkt im Programm der verschiedenen Sektionen der Vierten Internationale sein, gegen alle Einschränkungen der Immigration, speziell der jüdischen Immigration zu kämpfen. In den USA müssen wir gegen die Errichtung solcher Hindernisse kämpfen, wie den Zwang, durch das Vorzeigen von Geld oder eidesstattlichen Versicherungen zu beweisen, dass der Einwanderer keine Belastung für die Allgemeinheit wird. Ein Teil unseres Einsatzes gegen den Antisemitismus muss die Form eines Kampfes für ein uneingeschränktes Einwanderungsrecht für Flüchtlinge und speziell für Juden annehmen.

5. Die jüdische Bourgeoisie

Es gehört zu den Grundprinzipen des Marxismus, dass die Klassenlinien durch die nationalen Linien hindurch schneiden. Die jüdische Bourgeoisie, so ängstlich sie auch im Angesicht des vorrückenden Faschismus sein mag, bleibt zu aller erst ein kapitalistischer Ausbeuter. Es ist ihr Ziel - wie auch die Aufgabe, die ihnen von ihrer Klasse zur Erhaltung des kapitalistischen Systems zugewiesen wurde - sich der jüdischen Bewegung zu bemächtigen um die jüdischen Massen der kapitalistischen Klasse unterzuordnen, um die Juden abseits der übrigen Massen und auf diese Weise abseits des Klassenkampfes zu halten. Dies ist der Grund, warum die jüdische Großbourgeoisie am ehesten bereit ist, jede Art der "Volksfront" zu akzeptieren (man denkt auf Anhieb an den Millionär Leon Blum). Der American Jewish Congress stellt die Art von Bewegung dar, in der die jüdische Bourgeoisie für dieses Ziel energisch nach der Führung strebt. In einem solchen "Kongress" kann unser Ziel nur sein, dies zu entlarven und unser Programm als die wirkliche Lösung dem gegenüber zu stellen. Es gibt eine wirkliche Stimmung gegen Bestrebungen diesen ausgesprochnen Verrätern die Führung auszuhändigen. Dies wird deutlich bei der nahezu umfassenden Zurückweisung des Vorschlags, eine Abstimmung über die Frage abzuhalten, ob dieser Scheinkongress der einzige Sprecher der amerikanischen Juden sein soll. Nur wenn wir die Machenschaften der jüdischen Bourgeoisie entlarven, werden wir die jüdischen Massen für den Klassenkampf auf der Seite der Arbeiter gewinnen.

6. Stalinismus und die Juden

Die jüdischen Arbeiter haben noch nicht alle Lehren aus dem Birobidschan-Fiasko gezogen. Wir müssen besondere Propagandaanstrengungen in Bezug auf Birobidschan innerhalb der jüdischen Stalinisten und ihres Umfeldes entfalten. Wir müssen an diesem Beispiel aufzeigen, wie Stalin Russland ein weiteres Mal zum ‚Völkergefängnis’ gemacht hat, wie ein weiteres Mal die Moskauer Zentrale die Knute in Händen hält, in diesem Fall die Knute der Bürokratie über die Nationalitäten. Wir müssen aufzeigen, dass auch Russland unter Stalin den jüdischen Flüchtlingen seine Tore verschlossen hat. Jede Site der antisemitischen Welle in Russland muss entlarvt werden, um die jüdischen Massen aus dem Einfluss der Kainspartei KP herauszulösen.

Unsere Analyse ist nicht auf Russland beschränkt. Die Stalinisten müssen daran erinnert werden, wie Hauptmann Scheringer sich damit brüstete, dass kein einziger Jude dem Zentralkomitee der KPD angehörte. Sie müssen daran erinnert werden, wie sie sozialdemokratische Arbeiter mit der sozialistischen Bürokratie während der ‚dritten Periode’ verwechselten, wie sie die jüdischen Massen mit den gekauften Helfern des Imperialismus in einen Topf warfen. Dies führte dazu, dass die Stalinisten den Angriffen der Araber zustimmten, die in Wahrheit von den Britten selbst ermuntert, wenn nicht sogar angestiftet waren. Unsere Haltung gegenüber diesen Ereignissen in Palästina ist es aufzuzeigen, wie der britische Imperialismus Araber und Juden gegeneinander ausspielt. Unsere Haltung unterscheidet zwischen den jüdischen und arabischen Massen auf der einen Seite und ihren jeweiligen Ausbeutern auf der anderen Seite.

7. Die Juden, andere nationale Minderheiten und die Arbeiter

Die Juden bilden nur eine kleine Minderheit der amerikanischen Bevölkerung - ca. 4,5 Millionen von 130 Millionen. Hinge ihre Verteidigung von ihnen allein ab, so wäre ihre Sache in der Tat hoffnungslos. Aber auch hier muss den jüdischen Massen der Weg zu unserer Bewegung, der IV. Internationale gezeigt werden. Es sind in erster Linie die amerikanischen Arbeiter auf die sich die Juden im Kampf bei der Verteidigung ihrer gemeinsamen Rechte stützen müssen. Unsere Propaganda gegen den Antisemitismus ist in erster Linie nicht an die Juden sondern die amerikanische Arbeiterklasse gerichtet. Aus dem Angriff auf die Juden ziehen wir zuvorderst die Lehre, dass diese Angriffe lediglich die Speerspitze der Angriffe auf die amerikanische Arbeiterklasse darstellen. Diese Angriffe haben das Ziel den Lebensstandard zu senken, indem sie die Arbeiterklasse ihrer demokratischen Rechte berauben und die Arbeiterklasse den wirtschaftlichen Schlägen wehrlos machen. Die Arbeiter und die jüdischen Massen sind natürliche Verbündete im antifaschistischen Kampf. Unsere Propaganda innerhalb beider Gruppen soll sie davon überzeugen, dass die Arbeiter den Sozialismus errichten müssen, um den Faschismus zu schlagen. Nicht nur die Arbeiterklasse als solche ist der natürliche Verbündete der Juden, auch all die nationalen Minderheiten - Mexikaner, Chinesen, Japaner, Griechen, Polen, Russen - denen die herrschende Klasse in Amerika eine untergeordnete Stellung zuweist, können für den Kampf um die Rechte der nationalen Minderheiten, zu denen auch die Juden gehören, gewonnen werden. An erster Stelle müssen die Schwarzen in den Kampf gegen die Reaktion eingebunden werden, denn die Schwarzen sind das schlimmste Opfer der kapitalistischen Ausbeutung. Ihr Kampf für gleiche Rechte ist von höchster Bedeutung für die Sache der Arbeiter.

Nationaler Chauvinismus ist der Deckmantel für Sozialpatriotismus. Der Kampf, den die Arbeiter mit Hilfe der unterdrückten Nationalitäten gegen Chauvinismus führen, muss unausweichlich den Sozialpatriotismus berücksichtigen. Ebenso muss die Propaganda zur Unterstützung der Kapitalistenklasse und ihrer Regierung im imperialistischen Krieg in Betracht gezogen werden. Gibt man dem Sozialpatriotismus in den Reihen der Arbeiterklasse Nahrung, so bedeutet das eine Schwächung des Kampf gegen den Faschismus. Die Stalinisten verfolgen genau diesen Kurs des Verrats, der der Reaktion in die Hände spielt und die Arbeiterbewegung schwächt.

8. Das Übergangsprogramm und die Juden

Das Übergangsprogramm beinhaltet die Notwendigkeit Arbeiterverteidigungsgruppen aufzubauen. Dieser Gedanke kann unter den jüdischen Massen auf besonders fruchtbaren Boden fallen und von ihnen in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Es ist selbstverständlich, dass Verteidigungsgruppen, die unter unserem Einfluss gegründet werden, nicht nur aus Juden bestehen dürfen. Trotzdem müssen wir den hohen jüdischen Bevölkerungsanteil in New York vollständig ausnützen und soviel wie möglich Juden in diesen Verteidigungsgruppen organisieren. In diesem Zusammenhang muss die Lage in Jersey und deren Auswirkungen auf die Juden kaum besonders betont werden. Jüdische Organisationen müssen ermutigt werden, Verteidigungsgruppen aufzustellen, die auch den Arbeiterorganisationen ihre Hilfe anbieten sollten. In gleicher Weise müssen wir wann immer möglich unseren Einfluss ausüben, damit Arbeiterverteidigungsgruppen wenn nötig den Juden zu Hilfe kommen.

9. Jüdische Jugendliche

Die jüdischen Jugendlichen sind die ersten, die die Stöße der antisemitischen Diskriminierung ertragen müssen. Sie erfahren die Diskriminierung bei der Arbeitsplatzsuche, an den Schulen und Colleges. Daher muss eine besonders eindringlicher Kampf unter den Jugendlichen geführt werden, denn sie können schnell für unsere Sache gewonnen werden. Besonders die gebildeten jüdischen Jugendlichen befinden sich in einer Lage, die sie aufnahmebereit für revolutionäre Propaganda macht. Unter den Jugendlichen ist es besonders notwendig das stalinistische Gift des Fatalismus - der Faschismus käme unausweichlich - zu bekämpfen. Nur die Vierte Internationale kann die Entmutigung vertreiben und die Jugendlichen beflügeln für den Sieg zu kämpfen.

10. Aktionsprogramm


a. Zusammenfassung der Propaganda über die jüdische Frage in der Presse
b. Öffentliche Versammlungen in Stadt und Land über die jüdische Frage
c. Arbeit innerhalb der jüdischen Massenorganisationen. Beauftragung von Parteimitgliedern für diese Arbeit
d. Literatur auf Jiddisch
e. Besondere Anstrengungen das Jewish Labor Committee zu beeinflussen
f. Verteidigungskomiteearbeit. Hilfe für Flüchtlinge. Flüchtlinge sollen über ihre Erfahrungen im Ausland sprechen
g. Wiedererrichtung jüdischer Zellen
h. Kampagne für eine jiddische Presse

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