Der folgende Text ward erst in "Proletarian Revolution" No.29, Summer 1987, veröffentlicht.


Was hat man "Was tun?" angetan?

Mehrere Artikel in dieser Ausgabe beschreiben den "Krieg aller gegen alle", der das tägliche Brot für die verschiedenen Gruppen ist, die sich als Trotzkisten bezeichnen. Von Zeit zu Zeit wird ein Waffenstillstand erklärt und zwei oder drei Gruppen schließen sich zusammen. Diese Fusionierungen bedeuten jedoch nichts anderes als die Fortführung des Krieges mit andren Mitteln. Bald schon gibt es neue Spaltungen, neue Organisationen und neue Schlachten.

Was uns betrifft, so stimmen wir mit diesem ganzen Milieu in fundamentalen Fragen nicht überein. Es gibt aber eine Frage, bezüglich der wir alle übereinstimmen: der Klassencharakter dieser "trotzkistischen" Gruppen selber. Wir teilen mit ihnen die Meinung, daß es sich bei ihnen um kleinbürgerliche Tendenzen innerhalb der Arbeiterbewegung handelt.

Ohne Zweifel werden viele Leser uns an dieser Stelle nicht folgen, da sie doch davon ausgehen, daß keine linke Tendenz das über sich selbst sagen würde. In der Tat sagen die betreffenden Gruppen das nicht so direkt, aber sie sind völlig eindeutig. Da sie darüberhinaus "orthodox" und deshalb sozialistische Advokaten sind, tun sie nichts ohne einen Präzedenzfall. Es gelingt ihnen allen, eine historische Rechtfertigung für ihre Meinung in Vladimir Lenins berühmten Text "Was tun?" zu finden.

In dieser Arbeit argumentierte Lenin, daß das übliche Bewußtsein von Arbeitern, so wie es sich im Klassenkampf entwickele, wesensmäßig reformistisch und gewerkschaftlerisch (trade-unionistisch) sei; sozialistisches Bewußtsein müsse in die Arbeiterklasse nicht von ihr selbst, sondern von außen hineingetragen werden, von bürgerlichen oder Mittelklasse-Intellektuellen. Lenin hatte diese Sichtweise von Karl Kautzky, der damals allgemein als der führende "orthodoxe Marxist" anerkannt wurde, gelernt.

Lenin als Bibel

Indem sie Lenins Anschauung von 1902 als die bibliche Wahrheit für die heutige Zeit nehmen, übersehen diese orthodoxen Gläubigen in ihrer saubren gesetzestreuen Tradition nicht nur Lenins spätere Ansichten und Leo Trotzkis Kommentar zu diesem Thema, sondern auch die historische Erfahrung der internationalen Arbeiterklasse.

Hier zum Beispiel haben wir Trotzkis Einschätzung aus den späten 30er Jahren:

Nach Lenins Darstellung gerät die Arbeiterbewegung, wenn sie sich selbst überlassen bleibt, unausweichlich auf die Bahn des Opportunismus; das revolutionäre Klassenbewußtsein wird von außen, durch die marxistischen Intellektuellen, in das Proletariat hineingetragen... Der Verfasser von ‘Was tun?’ hat übrigens später selbst ihre Einseitigkeit und damit den Irrtum in seiner Theorie anerkannt; er führte dieses Geschütz - das sei am Rand vermerkt - gegen den ‘Ökonomismus’ in die Schlacht, der den spontanen Charakter der Arbeiterbewegung überschätzte. (L.Trotzki: Stalin, o.O., 1953, S.89)

Verschiedene Aussagen Lenins stützen Trotzkis Schlußfolgerung. Eine stammt aus einem zusammenfassenden Artikel über die Revolution von 1905:

Bei jedem Schritt treten die Arbeiter ihrem Hauptfeind - der Kapitalistenklasse - von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Im Kampf mit diesem Feind wird der Arbeiter ein Sozialist, kommt er dazu, sich der Notwendigkeit einer vollständigen Rekonstruktion der Gesamtheit der Gesellschaft, der völligen Abschaffung jeder Armut und Unterdrückung bewußt zu werden. ("Die Lehren der Revolution" in: LGW Bd.16)

Einen früheren Hinweis gab es während der Revolution von 1905 selbst (‘Sozialdemokratie’ war der damalige Begriff für die revolutionäre Partei der Arbeiterklasse):

Die Arbeiterklasse ist instinktiv, spontan sozialdemokratisch, und über zehn Jahre von der Sozialdemokratie in sie investierte Arbeit hat viel dazu beigetragen, diese Spontaneität in Bewußtsein umzuwandeln. ("Die Reorganisation der Partei" in: LGW Bd.10)

Eine Erklärung dieser Passagen haben wir einige Nummern zuvor geboten. Dort heißt es:

Lenin sagte hier nicht dasselbe wie in ‘Was tun?’. Diese Passagen spiegeln sein neues Verständnis wider, auf dessen Grundlage er nun bis zum Ende seines Lebens wirkte... Die Arbeiterklasse ist nicht einfach spontan trade-unionistisch, sie ist spontan revolutionär. Da sich das Proletariat jedoch in unterschiedlichem Tempo entwickelt, wird das revolutionäre Bewußtsein, falls die fortgeschrittendsten Arbeiter nicht intervenieren, um die zurückgebliebenen Schichten zu führen, von der Klasse als ganzer nicht erreicht werden. Spontaneität ist keine Antwort; die Führung durch die revolutionäre Partei, die proletarische Vorhut, ist ausschlaggebend - die entscheidende Frage unserer Zeit. Aber Führung ist eine Beziehung innerhalb der Arbeiterklasse, nicht eine zwischen Intellektuellen und Arbeitern. Die marxistische Partei aufzubauen, um die Klasse zu führen, ist der einzige Weg, das fremde Eindringen kleinbürgerlicher Ideologie zu verhindern. ("Proletarian Revolution", No.23)

Arbeiter wegen Rückständigkeit beschuldigen

Unser Kommentar war Teil einer Polemik gegen die britische Gruppe "Workers Power" (1), die an Lenins überholten Ansichten in "Was tun?" festhält (s. ihre "Theses on Reformism" in: "Permanent Revolution" No.1, p.49). Unser Argument unterschied sich scharf von dem von Tony Cliff (2) und der "rank and filist" (3)- Spontaneisten, die den späteren Lenin mißbrauchen, um rückständiges Bewußtsein bei den Arbeitern zu idealisieren. Wir haben gezeigt, daß "Workers Power" auf einem scheinbar entgegengesetzten Weg doch noch viel mit dem Cliffismus gemeinsam hat, aus dem sie ursprünglich stammt.

"Workers Power" benutzte Lenins Position, um ihre Linie zu verteidigen, derzufolge die Arbeiterklasse wegen der Rückständigkeit ihrer traditionellen reformistischen Führer anzuklagen sei. "Workers Power" meint, daß beide, "neue Führer, oft von einer militanten links-reformistischen Variante" und "die eingesessene konservative Bürokratie" das Bewußtsein der Arbeiter widerspiegeln, die sie wählen. Sorepräsentieren sie die reformistischen Beschränkungen des Bewußtseins dieser Arbeiter und werden zu Mitteln, dieses aufrecht zu erhalten. ("Theses on Reformism", p.57)

Orthodoxe Irrtümer

Eine noch grellere Präsentation der gleichen Position ist die der "Spartacist Tendency" (4):

Sozialistisches Bewußtsein beruht auf der Kenntnis der Geschichte des Klassenkampfes und verlangt daher die Einführung sozialistischer Konzeptionen in den Prozess des Klassenkampfes. Deren Träger sind deklassierte Intellektuelle, die als Teil der Vorhut-Partei organisiert sind. Die Sozialistische Revolution realisiert sich nicht durch die Intensivierung des traditionellen Klassenkampfes, sondern verlangt einen Sprung von einem vollkommen außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft gelegenen Ausgangspunkt aus. ("Marxist Bulletin" No.9, Part III.)

Das ist ein Beispiel für den kleinbürgerlichen Dünkel, demzufolge die eigenen Interessen und Programme weit über all der Gier und all den selbstsüchtigen Interessen aller Klassen in der bürgerlichen Gesellschaft, einschließlich der der Arbeiter, stehen. So war es denn auch für so eine Tendenz überhaupt kein großer Sprung, die Unterdrückung von Millionen von polnischen Arbeitern durch das Jaruzelski-Regime 1981 zu unterstützen. Wie bürokratisch die Stalinisten auch immer sein mochten, haben sie doch, da sie angeblich "außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft als ganzer" angesiedelt sind, ein viel besseres Verständnis für sozialistische Interessen als es einfache Arbeiter haben können.

Der Marxismus der Mittelklasse

Eine andere ähnliche Position wird in dem Artikel "What Is To Be Done...In Historical Context" angeboten, der von der britischen "Workers Revolutionary Party"(WRP) in ihrer Zeitschrift "Tasks of the Fourth International" No.1 veröffentlich wurde, die der von ihr vorgeschlagenen Internationalen trotzkistischen Konferenz gewidmet war. Der Artikel stammt aus der Feder von Tim Peach von der "Australian Communist League", die mit der WRP verbunden ist.

In seinem Angriff auf die Healy-Interpretation (5) macht Peach viele der "orthodoxen" Irrtümer deutlich, die dadurch gemacht wurden, daß man Lenins Aufsatz ikonifiziert hat. Er zitiert auch spätere Arbeiten von Lenin, in denen dieser davor warnt, "Was tun?" als universales Dogma zu nehmen, und auch die oben angeführte Passage von Trotzki. Dann aber ignoriert er, was er bis dahin gesagt hat, und schreibt: Lenin zeigte, daß Bewußtsein von außen in die Arbeiterklasse getragen werden muß» (p.27). Genau das hatte Healy jahrzehntelang wieder und wieder gesagt.

Peach versteht insbesondere, daß Bewußtsein durch die revolutionäre Partei in die Arbeiterklasse gelangt. In diese Partei jedoch wird ihre Ideologie für ihn, wie für alle Pseudotrotzkisten, von revolutionären Intellektuellen außerhalb der Arbeiterklasse hineingetragen.

Trotzki sagte, daß Arbeiter die sozialistischen Ideen eigenständig entwickeln können. Der Prozess könnte aber durch die Hilfe von Intellektuellen beschleunigt werden. Die weiteren Erfahrungen zeigen uns, daß, wenn die Intellektuellen nicht mit ihrem Mittelklasse-Egoismus brechen, sie sich stattdessen als ein enormes Hinderniß für die proletarische Bewegung erweisen werden.

Trotzki wies auch darauf hin, daß jeder ernsthafte Streit innerhalb der Arbeiterbewegung letztlich Klassenunterschiede reflektiert. Ihren eigenen Argumenten nach zu urteilen, ist unsere Differenz mit dem zentristischen Milieu so eine Frage. Die Frage, von wo sozialistische Ideen kommen, ist ein lebenswichtiger Bestandteil des Kampfes für die Wiederherstellung der proletarischen kommunistischen Weltanschauung und der internationalen Partei, die diese verkörpert.

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(1) In Deutschland "Gruppe Arbeitermacht." Rückkehr

(2) Führender Theoretiker der britischen "Socialist Workers Party", deren Anhänger in der BRD zunächst in der SAG und nach deren Liquidierung bei "Linksruck", der ISO und der IS organisiert sind. Rückkehr

(3) Dieser Ausdruck bezeichnet die Gewerkschaftsbasis. Rückkehr

(4) In der BRD durch die "Spartakist Arbeiterpartei Deutschlands, SpAD" vertreten. Der offizielle Name dieser Strömung ist "Internationale Kommunistische Liga" (IKL). Rückkehr

(5) Gerry Healey war Gründer und langjähriger Vorsitzender der WRP. Nach seinem Ausschluß zerfiel die Partei in mehrere Organisationen. Mit einer dieser Abspaltungen ist in der BRD die "Partei für Soziale Gleichheit" (PSG), bis 1997 "Bund Sozialistischer Arbeiter" (BSA) verbunden. Rückkehr