ATTAC und die 'Linke'

A.Holberg

Mit dem Übergang der traditionellen Großorganisationen des Reformismus, in erster Linie der Sozialdemokratischen und Labour-Parteien -- auf mehr oder weniger offen neoliberale Positionen und dem gleichzeitigen Zutagetreten der Krise dieses Modells versuchen zunehmend alte Kader inzwischen abgewirtschafteter 'marxistischer' Organisationen sowie anderer Teile der kleinbürgerlichen radikalen Szene etwa feministischer Provinienz den leer gewordenen Platz einzunehmen und eine Jugend, die die ersten Schritte zum politischen Bewusstsein tut, in den Griff zu bekommen. Werner Pirker drückte diesen Sachverhalt in der 'jungen Welt' (jW) v. 9.8.2001 unter dem meisterhaften Titel "Die Paradigmen wechseln wie die Unterhosen" so aus: "Jetzt, wo die vielgepriesenen Selbstregulierungskräfte des Marktes so offenkundig versagen, sind politische Selbstregulierungskräfte gefragt. Vielleicht glaubt man sie in der Bewegung gegen die Globalisierung gefunden zu haben. Als das Immunsystem der Weltökonomie und Weltpolitik. Gesundheitssoldaten, wie etwa die Mitglieder der Organisation ATTAC, stehen Gewehr bei Fuß."

Im Bereich der sogenannten 'Antiglobalisierungs'-Bewegung, ist in der Tat der zumindest in Europa wohlbekannteste Versuch in dieser Richtung die Organisation ATTAC. Der Name suggeriert zunächst "Angriff", steht aber für die zunächst in Frankreich gegründete und unterdess in fast 30 Staaten präsente 'Action pour une Tax Tobin d'Aide aux Citoyens'/ 'Aktion für eine Tobin-Steuer als Hilfe für die Bürger'. Ihre politischen Ziele gehen inzwischen weit über die Forderung nach einer Sonderabgabe für das 'vagabundierende und spekulative Finanzkapital' in Form der nach der Ende der 70er Jahre von dem US-amerikanischen Mainstream-Ökonomen James Tobin benannten 'Tobin Steuer' hinaus. Hier soll nicht die Forderung nach der Eindämmung des 'raffenden Kapitals' bei gleichzeitiger Akzeptanz des in Wirklichkeit von ihm nicht zu trennenden und in Wahrheit ebenso spekulativen 'schaffenden Kapitals' als originär reformistisch oder gar als 'antisemitisch' (1) kritisiert werden, weil das nicht nur anderswo bereits ausführlich getan wurde, sondern weil deren reformistischer Charakter von den Vertretern ATTAC's, die einst einen revolutionären Anspruch hatten, auch gar nicht geleugnet wird.

Zu den Verteidigungsbemühungen der linken Fraktion der ATTAC-Führung gehört allerdings die etwa von Thomas Fritz in der jW v. 19.10.01 so formulierte Verneblungstaktik: "Zweites Problem ist, dass viele Kritiker wie die Traumdeuter daherkommen und eine einheitliche ideologische Basis von ATTAC halluzinieren, die schlicht inexistent ist." Allerdings muß er im folgenden Satz bereits zugeben, dass die "zahlreichen Antikapitalisten" bei ATTAC "auf Grund einer realistischen Einschätzung existierender Kräfteverhältnisse radikale Kapitalismuskritik nicht zur verbindlichen Geschäftsgrundlage erheben würden" -- mit anderen Worten: ihr Antikapitalismus ist ein Freizeitvergnügen und wird nicht einmal von ihnen selbst als unverzichtbar zur Lösung der mit der mit dem globalen Kapitalismus einhergehenden Probleme betrachtet.

Die Kritik, die hier versucht wird, richtet sich auch nicht gegen die oft jugendlichen einfachen Mitglieder der Bewegung, von denen realistischerweise angesichts ihrer historischen Erfahrung mit 'linken' Organisationen fürs erste kaum mehr zu erwarten ist als daß sie sich zu einer Organisation hingezogen fühlen, die nicht zuletzt auch deshalb in ihr Blickfeld geraten ist, weil sie die propagandistische Unterstützung mehr oder weniger 'links'-liberaler Medien genießt, die schon immer im Interesse der Stabilisierung der kapitalistischen Ausbeuterordnung gegen die scheinbar irrationalen Auswüchse dieser Ordnung bzw. die Unvernunft eines Teils ihrer Hauptnutznießer agitiert haben. Wie die Wiener 'Arbeitsgruppe Marxismus' in ihrem Flugblatt 'Von Seattle bis Genua' im August 2001 formuliert, ist in der ebenso griffig wie letztlich meistens verkürzt 'Antiglobalisierungsbewegung' genannten Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung vor allem in Europa eine linke Dominanz klar geworden, vor allem soweit es reale Aktionen wie die von Seattle, Göteburg und Genua betrifft. Weiter heißt es allerdings: "Zwar nicht organisatorisch, aber medial und teilweise auch ideologisch dominieren kleinbürgerliche Globalisierungskritiker/innen wie ATTAC und 'Raison d'Agir' (Pierre Bourdieu) aus Frankreich, wie Susan George, Naomi Klein und Walden Bello aus Nordamerika oder -- als linkere Spielart -- die Postfordismus-Konzeption eines Toni Negri. Diese 'Meinungsführer' sind dabei weniger die Avantgarde, die eine vorwärtstreibende Rolle spielt, sondern eher als Ausdruck einer politisch noch nicht sehr entwickelten Bewegung an die Oberfläche gespült worden."

Die Kritik richtet sich vielmehr gegen jene, die sich mit einem linken Anspruch aufmachen, diese neu zu politischem Leben erwachte Jugend für ihre Interessen zu mobilisieren. Exemplarisch sei das an zwei bundesrepublikanischen Fällen dargestellt -- den Rechtfertigungen des Mitglieds des ehemaligen maoistische 'Kommunistischen Bund' (KB), Werner Rätz, und der Position der Gruppe 'Linksruck'.

Zunächst allerdings sei der Vollständigkeit halber noch auf einen exemplarischen Fall hingewiesen, den der Susan George, Vizepräsidentin von ATTAC-Frankreich und Autorin solcher einschlägig bekannter Bücher wie des 'Lugano Report' und anderer, in der sie die Ausbeutung der 'Dritten Welt' durch westliche Konzerne, die Weltbank und den IWF anprangert. Der Krieg ist bekanntlich oft ein Mittel, den Charakter politischer Kräfte ungeschminkt ans Tageslicht zu fördern. So auch der US-Überfall auf Afghanistan im Falle Susan George's. Im wöchentlichen Bulletin von ATTAC vom 21.11.2001 stellt sie fest, dass die ursprünglichen Befürchtungen bezüglich der Militäroperation der USA sich glücklicherweise nicht bewahrheitet hätten und dass es in der Tat der 'Terrorismus' und der 'faschistische Fundamentalismus' sei, die zu den größten Problemen der Gegenwart gehörten. Der Westen und allen voran die USA hätten natürlich auch ihre Fehler, und ihren politischen Führern mangele es an Durchblick. Aber es gehe in erster Linie darum, des faschistisch-fundamentalistischen Terrorismus Herr zu werden. Notwendig sei eine neue Keynesianische Strategie, darunter die finanzielle Unterstützung von Regierungen der Dritten Welt mit den aus der Tobin-Steuer angeblich zu gewinnenden 200 Milliarden US-Dollar im Jahr. Diese Hilfe solle allerdings nicht nur davon abhängig gemacht werden, dass die betreffenden Regierungen Vertreter der 'Zivilgesellschaft' am Management und der Verteilung der Gelder beteiligen, sondern vor allem von ihrem politischen Wohlverhalten. "Arabische und/oder muslimische Länder, die sich dem Planetaren Vertrag anzuschließen wünschen, müssten ihren guten Willen unter Beweis stellen, indem sie ihre eigenen gefährlichen fundamentalistischen Elemente ausmerzen." (zit.nach: 'Socialist Review'. London Jan. 2002 p.13). Der von ihr zum Kronzeugen genommene Husni Mubarak ist ein solcher 'Ausmerzer' ebenso wie die Regierung in Algerien oder in Syrien oder im Irak, um nur einige zu nennen. Selbst das Regime in Saudi Arabien hat sich etwa anlässlich der Besetzung der Großen Moschee in Mekka durch oppositionelle Islamisten als willig zur Ausmerzung erwiesen. In allen Fällen handelt es sich um Regime, die beim Ausmerzen jeglicher Opposition allerdings wesentlich effektiver sind als bei der Schaffung wirtschaftlicher Überlebensbedingungen für die Masse der Bevölkerung. Wie auch immer, der nächste Schritt zur 'Ausmerzung' besteht logischerweise darin, diesen Job von der US-Luftwaffe erledigen zu lassen, wenn die lokalen Allierten dazu nicht ausreichend in der Lage sind. Die US-Luftwaffe und die Marines ebenso wie ihre Äquivalente in England, Deutschland oder Frankreich werden jedoch von Kräften befehligt, die die Welt so gestaltet haben, wie sie ist, und die damit den Nährboden für den islamischen und andere Fundamentalismen abgibt. Susan George, die sich bereits im 'Lugano Report' für Bündnisse bis hin zur isolationistischen Rechten der US-Republikaner und Fraktionen des transnationalen Kapitals ausgesprochen hat, hat auf der Basis der Anerkennung des leider nur schlecht verwalteten guten Kerns ihrer westlichen Zivilisation, d.h. konkret des Kapitalismus, die Wahl für die imperialistische Vorherrschaft in der Welt getroffen. Es bedarf keines besonderen Scharfsinns, sondern nur einiger Kenntnis der Geschichte der Klassengesellschaften, um die Frage zu beantworten, ob der Hund mit dem Schwanz wedelt oder andersherum, und wer in diesem Bündnis zwischen reformistischen Kapitalismus-Kritikern und den Herrn des Kapitalismus selbst der Hund und wer der Schwanz ist.

Chris Harman, führender Kopf der britischen 'Socialist Workers Party', die die treibende Kraft hinter der Orientierung von 'Linksruck' auf ATTAC ist, führt Susan George's offenen Übergang auf eine imperialistische Position einerseits auf ihr mangelndes Verständnis des Charakters des 'Islamismus' und der Wurzeln des 'Terrorismus' zurück. Wichtiger jedoch sei die Tatsache, daß sie wie weite Teile der Bewegung keinen Begriff davon habe, wie die kapitalistische Produktionsweise an sich und nicht nur ihre aktuelle neoliberale Version die kritisierten Symptome gesetzmäßig hervorbringe. Wer das ignoriere, könne auch nicht den Staat als Ausdruck und Werkzeug dieser Produktionsweise und erkennen, und komme in der Annahme, die Globalisierung habe den Staat machtlos gemacht, dazu, im Interesse des Kampfes gegen die Globalisierung den Staat erneut mit Macht ausstatten zu wollen, die er dann -- vielleicht beraten von den Führern von ATTAC -- für das Gute und Wahre nutzen wird.

Was die angebliche Entmachtung des Staates betrifft, so sei noch darauf hingewiesen, daß gerade die US-Militäroperation in Afghanistan der liberalen Wochenzeitung 'Die Zeit' ein Beweis gegen diese in der 'Antiglobalisierungsbewegung' umhergeisternde Vorstellung ist. Am 27.12.2001 heißt es dort auf der ersten Seite: "Grundsätzlich aber machte sich die Globalisierungsdebatte an der Vorstellung fest, daß ein gänzlich neues Zeitalter angebrochen sei: eine Ära, in der Transnationale Kapital und Kommunikationsströme, die Fluten der Investition und des Handels das Fundament des Nationalstaats unterspülen würden. Tatsächlich haben die hundert Tage nach dem 11. September das Gegenteil ausbuchstabiert. Der 500 Jahre alte Nationalstaat lebt und floriert; er weiß sich gut wieder die Konkurrenz zu wehren. Der Terror der Qaida war, das ist richtig, ein Produkt der Globalisierung; seine Waffen waren der Langstreckenjet, das Handy, der anonyme Geldtransfer. Doch schon die ersten Gegenschläge ließen die ungeheuerliche Macht erahnen, welche die Staaten gegen die neuzeitlichen Freibeuter des Terrors aufbieten konnten.... Die Koalitionäre, keineswegs begeisterte Applaudeure amerikanischer Übermacht, haben instinktiv begriffen, daß die Globale des Terrors die Vorherrschaft der Staaten bedrohte, mithin den uralten Anspruch, die Grundregeln des internationalen Umgangs im Kartell der Mächtigen zu bestimmen. Zudem haben die Hundert Tage noch eine andere Wahrheit erhellt. Der Staat schlägt nicht nur nach 'unten', er meldet sich auch nach 'oben' zurück. Denn es hat sich rasch gezeigt, daß nationenüberwölbende Institutionen wie NATO und EU, die seit fünfzig Jahren die Macht der Staaten zu vergemeinschaften versuchen, in die Defensive gerutscht sind." Diese Institutionen -- so Josef Joffe -- waren Zuschauer nicht Akteure. Daß dieser politisch-militärischen Rolle des Nationalstaats auch nach wie vor eine weitgehende Fixierung der überwiegenden Teils des großen Kapitals in solchen Nationalstaats entspricht, wurde etwa von Winfried Wolf aufgezeigt (W.Wolf: Fusionsfieber - oder: Das große Fressen. Köln 2000).

Werner Rätz, Mitglied der Koordonierungskreises von ATTAC-Deutschland, hat in der von ehemaligen KBlern herausgegebenen Monatszeitung 'analyse & Kritik' (a& k, früher 'Arbeiterkampf') sein im übrigen auch in der 'Sozialistischen Zeitung' (SoZ) reproduziertes Bekenntnis als 'radikaler Linker' abgelegt. Zuvor hatte er sich bereits in der 'jungen Welt' in einem ausführlichen Interview geoutet und zwar konkreter als im Beitrag für a& k. Zur Kritik ist daher auch dieses Interview heranzuziehen.

So und so spiegeln seine Darlegungen, insbesondere der praktisch unkritische Bezug auf die Position, die er im a& k-Beitrag einem "jungen ATTAC-Mitglied" zuschreibt, mehr die Niederlage der 'Linken' wieder als den Aufbruch, über den allenthalben zu hören ist. W.R. faßt vermutlich durchaus zutreffend die Gemütsverfassung des Gros der ATTAC-Mitglieder und mit ihnen der jungen Generation von Aktivisten der sozialen Bewegung zusammen, wenn er diese dahingehend zitiert, daß man etwas tun sollte, "ohne daß daraus Ansprüche abgeleitet werden könnten nach dem Motto, wer A sage müsse auch B sagen" und weiter das schon erwähnte "junge ATTAC-Mitglied" zitierend, daß dessen Generation "kein Richtigkeits- sondern ein Nützlichkeitsverhältnis zur Politik hätten". W. Rätz scheint das alles sehr erfrischend neu und dynamisch zu finden. In Wahrheit jedoch handelt es sich bei diesem angesichts der Situation wohl unvermeidlichen ideologischen Primitivismus um einen Rückschritt gegenüber in der Vergangenheit längst erreichten relativen Höhen vor. Man muß natürlich nicht B nach A sagen, aber man sollte sich dann nicht beschweren, wenn man nicht ernst genommen wird und folglich erfolglos bleibt -- jedenfalls, wenn der Erfolg an der Durchsetzung der verkündeten Ziele, nicht an der Einnahme von Pöstchen z.B. in NGOs gemessen wird.

Hier wie im jW-Interview schießt W.Rätz -- dort vom Interviewer Wolfgang Pomrehn, der den für den Marxismus zentralen Gegensatz zwischen Revolution und Reformismus offenbar für ein Problem aus der "Mottenkiste politischer Begriffe hält", auf Trab gebracht -- denn auch sogleich am Problem vorbei. Der Reformismus ist nicht einfach der Kampf für Reformen, sondern die Vorstellung, es bedürfe zur Erreichung des auch von linken Reformisten als solches definierten Endziels (bei der reformistischen Sozialdemokratie seinerzeit der 'Sozialismus') keines politischen und sozialen Sturzes der herrschenden Klasse und ihrer Gesellschaftsordnung, sondern nur der Anhäufung systemimmanenter Veränderungen. Damit steht er zum revolutionären Marxismus -- und einen anderen gibt es nicht -- der natürlich auch für Reformen kämpft, über deren inhaltliche und zeitliche Begrenztheit aber nie Zweifel aufkommen läßt, im Gegensatz. Da es eine Hauptaufgabe von Marxisten ist, in der potentiell revolutionären Klasse (der der Lohnabhängigen) das Bewußtsein über ihre von allen übrigen Klassen getrennten Interessen zu schaffen, mit anderen Worten, sie von einer Klasse an sich zu einer Klasse an und für sich zu machen, ist der Reformismus nicht nur eine in diesem Sinn ungenügende Ideologie, sondern objektiv konterrevolutionär. Für einen revolutionären Sozialisten oder Kommunisten dient der Kampf für Reformen in erster Linie zur Bewußtseinsmachung. W. Rätz ist aber offenbar der Meinung, daß es möglich sei, mit einer von ihm selbst als reformistisch eingeschätzten Bewegung den Kapitalismus auf die Zeit von vor 25 Jahren zurückzudrehen, d.h. auf die Epoche des sozialstaatlichen Klassenkompromisses. Eine revolutionäre Bewegung gibt es heute offensichtlich nicht. Das einfach zu akzeptieren und stattdessen der amorphen Bewegung derartige Ziele aufzuschwatzen, bedeutet jedoch, an der Verhinderung einer revolutionären (Klassen)-Bewegung mitzuarbeiten und schon dadurch das anvisierte Reformziel vollends zu einem illusorischen zu machen.

Rätz schreibt, daß er als radikaler Linker das Ziel von ATTAC, die Politik der Umverteilung von unten nach oben umzukehren, teile. Richtig so! Falsch wird es allerdings, wenn er fortfährt: "bis dahin haben wir einen gemeinsamen Weg. Danach wird man sehen." Hier ist von einem gemeinsamen Ziel und keineswegs von einem gemeinsamen Weg die Rede, wobei im übrigen zu erwähnen ist, dass namhafte Vertreter der 'Antiglobalisierungsbewegung' wie die 'No Logo'-Autorin Naomi Klein, die damit sicher nicht alleine steht, letztlich sogar dieses Ziel für illusorisch halten, wenn sie laut 'Die Zeit' (27.12.2001) postulieren, daß es nicht gelingen werde, das "Machtkartell aus Big Business, Weltbank, Weltwährungsfonds, Welthandelsorganisation und den acht Teilnehmern des jährlichen Weltwirtschaftsgipfel" auf dem Weg in "die globale Ökonomie" aufzuhalten. Mit den erreichbaren 'kleinen Siegen' auf 'Nebenschauplätzen' könne man "die großen Sprünge des Neoliberalismus" wenigstens bremsen, im Einzelfall auch blockieren, aber mehr sei nicht drin. Wie dem auch sei: Mindestens seit den Zeiten von Marx und Engels hat sich die Linke nie über dieses Ziel gestritten, wohl aber darüber, wie es zu erreichen sei. Das von Rätz zitierte und nicht kritisierte 'junge ATTAC-Mitglied' und dessen Generation scheint diese Diskussion nicht zu interessieren, fragt sie doch ausdrücklich nicht, was notwendig und richtig ist (und entzieht damit nebenbei gesagt der Frage nach der Nützlichkeit völlig den Boden). Die von Rätz an anderer Stelle in Aussicht gestellte weitere Perspektive nach der Reformphase ist auf dieser Basis denn auch nicht wesentlich verschieden von den Sozialismus-Versprechen der alten Sozialdemokratie -- Sonntagsreden. W. Rätz hat wohl -- wahrscheinlich gegen seine Absicht -- in dem Interview deutlich gemacht, daß, wenn der Gedanke an eine revolutionäre Aufhebung des Kapitalismus abwegig sein sollte, der, ihn mit Hilfe einer kleinbürgerlichen Bewegung à la ATTAC zu zähmen, das allemal ist. Vor La Fontaine als ATTAC-Mitglied zu warnen, ist unter diesen Umständen durchaus unangebracht. Er unterscheidet sich von W.Rätz offensichtlich nicht grundsätzlich.

Das fatale an der Argumentation von W. Rätz ist darüberhinaus, daß hier jemand argumentiert als habe er von den entsprechenden Diskussionen in der Geschichte des Marxismus noch nie gehört, obwohl er selbst einst Mitglied einer sich als marxistisch verstehenden Organisation war.

Ein anderes führendes Mitglied von ATTAC mit ähnlichem Hintergrund ist übrigens Peter Wahl, einst Sprecher des DKP-nahen 'Antiimperialistischen Solidaritätskomitees'. Dieser freut sich in der jW v. 16.10.01 darüber, daß schon so zahlreiche Prominente, MdBs von SPD, Grünen und PDS und auch Staatsminister Ludger Vollmer, ihr Herz für die Tobin-Steuer entdeckt hätten, und übersieht dabei geflissentlich, ob es die Ausgebeuteten sind, die die Notwendigkeit der Abschaffung des Kapitalismus noch nicht sehen und folglich reformistische Ziele unterstützen, oder ob das die Ausbeuter und ihr politisches Personal selbst tun. Im ersten Fall kann die Durchsetzung einer begrenzten Reform Ausgangspunkt weiterer Kämpfe sein, im zweiten Fall dienst sie der Stabilisierung des Kapitalismus und damit langfristig der besseren und verschärften Ausbeutung der arbeitenden Klassen.

Rätz errichtet den Popanz eines Gegensatzes von Teilnahme an einer breiten Bewegung und Kritik an deren aktuellem Bewußtseinstand (Reformismus). Den offenen Einsatz für theoretische Klarheit in einer nicht-revolutionären Situation bügelt er mit einem Gag nieder, wenn er schreibt "Im Konkreten kann 'Brot und Frieden' [die Parole der Bolschewiki 1917, A.H.] so gut zur sozialistischen Revolution führen wie 'patria libre o morir' in den Korruptionssumpf." Abgesehen davon, daß die zweite Parole in der Tat keinerlei spezifisch proletarischen und also sozialistischen, sondern einen nationalistischen und also bürgerlichen Klasseninhalt hat, verschweigt Rätz die Tatsache, daß die Bolschewiki unter Lenin keineswegs in einer ideologisch amorphen Friedensbewegung aufgegangen sind, sondern Jahrzehnte lang innerhalb der russischen Arbeiterklasse für die Umwandlung einer "spontanen sozialdemokratischen" Haltung in ein 'sozialdemokratisches' [revolutionär-marxistisches] Bewußtsein' gekämpft haben. Damit erst anzufangen, wenn die Revolution bereits an die Türe klopft, ist, um wieder einmal auf unser 'junges ATTAC-Mitglied' Bezug zu nehmen, nicht richtig, nicht notwendig und deshalb auch unmöglich nützlich.

Entgegen ATTAC-Repräsentanten wie W.Rätz oder P.Wahl, die den Anspruch auf den Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei als Voraussetzung nicht nur der Abschaffung des Kapitalismus, sondern auch der Durchsetzung relevanter Reformen im Interesse der arbeitenden Bevölkerung ohnehin nicht mehr erheben, behauptet 'Linksruck' gerade das von sich. Zur Erinnerung: 'Linksruck' ist hervorgegangen aus dem gleichnamigen 'Netzwerk' innerhalb der Jusos, das dort von der 'Sozialistischen Arbeitergruppe' (SAG) gegründet wurde. Die SAG und 'Linksruck' sind Mitglied des von der britischen 'Socialist Workers Party' geführten internationalen Zusammenschlusses von Gruppen unter dem Namen 'International Socialist Tendency' (IST). Die von Tony Cliff gegründete IST steht ideologisch in der Tradition einer Fraktion der trotzkistischen Vierten Internationale, die im Zweiten Weltkrieg die Unterstützung der UdSSR als 'degenerierten Arbeiterstaat' ablehnte, da sie diese als einen Staat des bürokratischen Kollektivismus bzw. Staatskapitalismus und folglich als imperialistisch betrachtete. Ein weiteres Merkmal dieser Strömung ist ihre mit dem in Abgrenzung zum stalinistischen 'Sozialismus von Oben' Begriff des 'Sozialismus von unten' zusammenhängende Orientierung auf die Bewegung -- ursprünglich die proletarische Klassenbewegung, inzwischen jedoch jede Art linker Bewegung. Über die Art des Bezugs auf diese Bewegung - konkret die 'Antiglobalisierungsbewegung' und die Wahl einer mit dieser teilweise verbundenen 'dritten Partei' in den USA war es in den vergangenen zwei Jahren innerhalb der IST zu einer größeren Krise gekommen, die zum Ausschluß etwa der US-amerikanischen Mitgliedsorganisation und der Spaltung der griechischen, neben der SWP zwei der wichtigsten weil größten Mitgliedsgruppen, führte (s. 'KOVI Dokumente' Nr. 5)

Am 2.12.2001 fand eine 'Aktivenkonferenz' von 'Linksruck' statt. Auf dieser Konferenz, die einerseits die Rückkehr der wegen ihres Alters für die Jusos nicht mehr geeigneten ehemaligen SAG-Führer in 'Rang und Würde' und andererseits den Austritt einer sich perverser Weise auch noch als 'bolschewistisch' bezeichnender Fraktion extremer Bewegungstümler mit sich brachte, wurde in einer Resolution das Verhältnis von 'Linksruck' zur ATTAC im Besondern und der 'Antiglobalisierungsbewegung' im Allgemeinen bestimmt. In Punkt 3 - 5 heißt es:

"Der Aufbau der Antikriegsbewegung [gegen den Afghanistankrieg. A.H.] findet unter den Rahmenbedingungen der antikapitalistischen Bewegung statt. Dabei ist das rasante Wachstum von ATTAC die wichtigste Entwicklung für Revolutionäre in Deutschland. ATTAC schafft einen antikapitalistisch geprägten Pol und Organisationsrahmen für die Unzufriedenheit mit Rot-Grün. Unsere Aufgabe ist, diesen Prozeß zu verstärken, indem wir ATTAC auf den Hauptbruch im Reformismus ausrichten -- den Krieg.

Über den Krieg hinaus wird ATTAC die bleibende Heimat und das ideale Milieu für Revolutionäre sein. Jedes Linksruck-Mitglied soll zugleich Mitglied bei ATTAC sein. Jedes Linksruck-Mitglied soll nach Kräften versuchen, ATTAC auszuweiten. Die Mittel dazu sind Gewinnung von Individuen, Gründung von ATTAC-Uni-, Schüler-, oder Gewerkschaftsgruppen, Kandidatur als ATTAC bei Uniwahlen. Die Universitäten sollen Schwerpunkt unserer Arbeit sein, ATTAC-Uni-Gruppen die Hauptstruktur, um an der Universität zu arbeiten.

Linksruck will eine revolutionäre Arbeiterpartei aufbauen. Das tun wir nicht neben, sondern in der Bewegung. Dazu ist eine eigenständige Organisierung von Revolutionären auf Grundlage ihrer Prinzipien unerläßlich. Einheitspolitik heißt für uns nicht "Einheitsfront in der Theorie" -- die Verwischung der Trennlinien zwischen revolutionären Marxismus und anderen politischen Traditionen. Aus diesem Grund lehnen wir die Auflösung der revolutionären Organisation in einen "antikapitalistisch-sozialistischen" Flügel ab. Linksruck wird nicht der neue SDS -- Linksruck arbeitet als revolutionäre Organisation innerhalb einer SDS-ähnlichen Struktur (eine linke Sammlungsbewegung), nämlich ATTAC."

Während die Linksruckmehrheit natürlich gegenüber jenen (vor allem die ehemalige Kölner Ortsgruppe) recht hat, die die Auflösung in einer amorphen reformistischen Organisation forderten, hat sie in zwei zentralen Fragen unrecht: Die Politik der Einheitsfront ist historisch eine Politik, bei der es um die Aktionseinheit von revolutionären mit reformistischen proletarischen Klassenorganisationen geht. ATTAC ist jedoch weder soziologisch noch politisch-ideologisch eine solche Organisation. Darüberhinaus bedeutet Einheitsfrontpolitik die Politik der Absprachen zwischen verschiedenen Organisationen mit dem Zweck gemeinsamer Aktionen und nicht etwa die Schaffung und den Aufbau einer gemeinsamen Organisation. Die 'Linksruckanhänger' könnten sich darüber hinaus leicht in einer von der SWP, die im übrigen die treibende Kraft hinter allen strategischen Entscheidungen von 'Linksruck' ist, in der Reihe 'Education for Socialists' herausgegebenen Broschüre 'Socialist Strategy and Tactics' über Zweck und Charakter der Einheitsfront-Politik im Gegensatz zur Volksfront informieren. Dort betont Lindsey German, daß im Zentrum dieser Taktik die Aufgabe steht, einen politischen Bruch zwischen den reformistischen Führern und der Masse ihrer proletarischen Anhänger durch die Erfahrung im gemeinsamen Kampf mit Revolutionären voranzutreiben. Die von Trotzki als höchste Form der 'Einheitsfront' bezeichneten Arbeiterräte (Sowjets) im Russland von 1917, in denen die Bolschewiki in der Tat Mitglied waren, sind ebenso wie Gewerkschaften mit einer politischen Organisation wie ATTAC nicht zu vergleichen. Die Begründung von 'Linksruck' für die Mitgliedschaft in ATTAC, einer Organisation, deren Bedeutung im Interesse der Mobilisierung der 'Linksruck'-Mitglieder im übrigen künstlich aufgeblasen wird, stimmt deshalb hinten und vorne nicht. Akzeptabel wäre gegebenenfalls eine Politik des Entrismus, um möglichst bald die besten Elemente aus ATTAC herausziehen zu können. Die von 'Linksruck' anvisierte Politik des aktiven Werbens für und Aufbaus von ATTAC hingegen läuft auf Folgendes hinaus: Eine (vermeintlich) revolutionäre Organisation, die als solche über stark mobilisierbare Mitglieder verfügt, leistet die Arbeit des Aufbaus einer reformistischen Organisation des kleinbürgerlichen Radikalismus, zu dem deren wirkliche Führer nicht willens oder nicht in der Lage sind, wie z.B. die magere Präsenz von ATTAC in Genua gezeigt hat. Die Orientierung auf den Aufbau einer solchen Organisation schließt naturgemäß die systematische Entlarvung der reformistischen Irreführer der Organisation aus, weil das notwendigerweise bald zur Spaltung statt zum Aufbau von ATTAC führen würde. Erneut versucht sich 'Linksruck' als militante Avantgarde des Reformismus zu profilieren. Bereits die Entwicklung der PDS, in der immerhin in breitem Maße ein wenn auch weitgehend pervertiertes marxistisches Grundverständnis existierte, hat gezeigt, daß unter Bedingungen der fehlenden Mobilisierung der Arbeiterklasse eine politisch heterogene Organisation, in der 'Revolutionäre' mit Reformisten kohabitieren, die Marginalisierung der 'Revolutionäre' nicht verhindert werden kann. Bei ATTAC wird dieser Prozess noch schneller vorangehen. Am Rande des Weges wird eine kleine Zahl desillusionierter 'Revolutionäre' und eine größere Zahl von jugendlichen Radikalen liegen, die dort nichts Positives gelernt haben. Es ist wichtig, mit den Mitgliedern von ATTAC in Kontakt zu treten zu diskutieren und wo möglich gemeinsam zu kämpfen. ATTAC aufzubauen jedoch, heißt, einen weitere Barriere für den Aufbau der revolutionären Partei, der angeblich das Ziel von Linksruck ist, zu errichten.

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(1) der 'Antisemitismus'-Vorwurf wird hier nur erwähnt, weil er bereits erhoben wurde. Natürlich gibt es keinen Hinweis auf Antisemitismus von ATTAC. Was es gibt, ist eine originär kleinbürgerliche Sichtweise des Kapitalismus, der die Produktionssphäre und das heißt die für seine Bestimmung zentrale Frage der Ausbeutung durch Lohnarbeit -- zu Gunsten der Zirkulationssphäre -- d.h. zu Gunsten einer Betrachtung der internen Beziehungen der Kapitalistenklasse -- weitestgehend ausblendet. In diesem Zusammenhang steht auch die vom Bremer Ökonomieprofessor. Jörg Huffschmidt, einem Gründungsmitglied von ATTAC-Deutschland und in der Vergangenheit Mitautor des gewerkschaftlich orientierten 'Gegengutachtens' zum jährlichen Wirtschaftsgutachten der 'Fünf Weisen', vertretene Unterkonsumptionstheorie als Basis einer Lösung der zyklischen Wirtschaftskrise. Diese Theorie übersieht nicht nur, daß die kapitalistische Krise im allgemeinen dann ausbricht, wenn das Lohnniveau am höchsten ist, sondern vor allem auch, daß die ausgebeuteten Klassen in keiner Klassengesellschaft, also auch nicht im Kapitalismus, die Gesamtheit der produzierten Güter kaufen könnten. Was all diese an die Möglichkeit eines rationalen Kapitalismus glaubenden reformistischen Theorien mit dem Antisemitismus verbindet, ist ihr nicht-revolutionärer 'Antikapitalismus', ihr kleinbürgerlicher Charakter, nicht mehr aber auch nicht weniger. Der inflationäre Gebrauch des Begriffs 'Antisemitismus' durch die 'antinationale' 'Linke' entwertet den Begriff und schadet darüber hinaus dem Kampf gegen den real existierenden Antisemitismus. Rückkehr