Über die Epoche des kapitalistischen Niedergangs

Im Sommer 1997 erhielt "Proletarian Revolution" den folgenden interessanten Brief eines Lesers, dessen Thesen nun angesichts der Krise in Asien und darüberhinaus unbedingt diskutiert werden müssen. Die folgende Diskussion ward in "Proletarian Revolution" No.56, New York, Spring 1998, veröffentlicht.


Der Brief von Loren Goldner

Ich schreibe Euch, weil ich seit einiger Zeit mit ein paar Problemen der marxistischen Theorie gekämpft habe und Ihr mir als zu den wenigen Leuten gehörend in den Sinn gekommen seid, von denen ich weiß, daß sie zu einem ernsthaften Kommentar in der Lage sind. Ich sehe in der (mangels eines besseren Ausdrucks) "linksradikalen" Presse kaum einen ernsthaften Versuch, die folgenden Themen anzusprechen.

Das Problem ist die Bedeutung der neuen asiatischen Kapitalismus. Es ist jetzt eine gute Zeit, darüber nachzudenken, weil die Finanzkrise der letzten paar Wochen in der Tat einen Wendepunkt darstellen könnte.

Die Frage, die sich mir stellt, ist, wie man die Entwicklung in Asien in den vergangenen 30 Jahren mit der Perspektive in Übereinstimmung bringen kann, die wir von der frühen Komintern als die der "Epoche des kapitalistischen Niedergangs" geerbt haben. Was mich betrifft, so bin ich mir noch unsicher, und deshalb bin ich gespannt darauf, Eure Meinung darüber zu hören, aber ich denke, daß die Entwicklungen in Süd Korea, Taiwan, Singapur, Hong Kong und - jüngeren Datums - Chinas, Thailands und Indonesiens ernsthafte Probleme für diese Theorie darstellen. Laßt mich das Problem, wie ich es sehe, formulieren.

Bis 1975 sah diese Theorie ziemlich gut aus. Der Kapitalismus hatte seit 1914 keine neue Industriemacht mehr hervorgebracht. (Ich habe mich darüber gewundert, daß Ihr in Eurem Buch über die Sowjet Union die Industrialisierung Rußlands als eine Errungenschaft der Revolution betrachtet; wie schwach und zweitrangig auch immer, war doch auch das vorrevolutionäre Rußland eine imperialistische Macht mit 20-30 Jahren schneller Industrialisierung hinter sich. Aber laßt uns das jetzt einmal ausklammern).

Sagen wir um der Argumentation willen einmal, daß Süd Korea über der Berg ist, obwohl ich glaube, daß sich das erst noch erweisen muß. Laßt uns sagen, daß Thailand und Indonesien heute wenig mehr als Auslagerungsorte für japanisches Kapital sind und bald auch ans Ende ihres Weges angekommen sein könnten, obwohl auch das sich erst noch herausstellen muß. Dennoch, wenn man die asiatische Industrialisierung außerhalb Japans in den letzten 30 Jahren als Ganzes nimmt, fühlt Ihr Euch dann wirklich wohl, wenn Ihr sagt, daß es hier nichts Neues gibt und das theoretische Erbe von Lenin-Trotzki noch intakt ist. Kennt Ihr irgendeinen ernsthaften marxistischen Theoretiker der 60er und 70er Jahre, der eine solche Entwicklung vorausgesehen hätte, oder der eine solche Möglichkeit im Kapitalismus nicht einfach ausgeschlossen hätte?

In PR 53 habt Ihr einen langen Artikel über China veröffentlicht, den ich offen gesagt recht mittelmäßig fand. Nicht, daß ich seine zentrale Behauptung nicht ernst nähme, daß nämlich China von sozialem Chaos als Ergebnis der großen Veränderungen bedroht ist, die von den Nach-78er-"Reformen" in Bewegung gesetzt wurden. Aber ich fand, daß der Artikel kleinlich war in seiner Weigerung anzuerkennen, wie viel Wachstum schon stattgefunden hat.

Der Kapitalismus war in keiner Epoche seiner Geschichte ein schöner Anblick. Aber zwischen 1914 und 1975 hat es nie irgendwo die Art von Wachstum gegeben, deren Zeuge wir in jüngerer Zeit - vorallem in den letzten 20 Jahren - in Asien gewesen sind. China und einige der Schwellenländer haben ein schnelleres (in manchen Fällen ein viel schnelleres) Wachstum erreicht als die kapitalistischen Kernländer auf ihrem Höhepunkt. Paßt das zur "Epoche des imperialistischen Niedergangs" und wenn, wie? (ich will durchaus nicht demagogisch sein)

Dennoch war der Artikel in PR besser als die jüngste vierteilige Serie der "Spartacist League"(1) über die Globalisierung, in der gestützt auf ein paar Statistiken behauptet wurde, daß sich seit 1914 kaum was geändert habe. Ich bin sicher, daß Ihr daran auch Eure Kritiken hattet, aber in gewisser Hinsicht glaube ich, daß wir aus dem selben Teil des Universums kommen. Und der springende Punkt bei der Frage ist, falls ich nicht bei der Lenin-Trotzki-Perspektive etwas völlig falsch verstanden habe, für mich der, daß von 1914 an diese Art von Entwicklung in zurückgebliebenen Ländern nur als Ergebnis von proletarischen Revolutionen möglich war. Die SL ist natürlich aus dem Schneider, weil sie sagen würde, daß China als Ergebnis der russischen Revolution ein "deformierter Arbeiterstaat" geworden ist. Aber das glaubt Ihr nicht, und ich auch nicht. Wie kann man das also erklären? Oder glaubt Ihr, daß es nichts qualitativ Neues zu erklären gibt?

Die beste Art, auf die man meines Erachtens die Theorie des Niedergangs nach 1914 "retten" kann, ist die, den neuen asiatischen Kapitalismus in einem weltweiten Kontext zu betrachten. Seit 1975 hat der Kapitalismus ein grundlegendes Ziel gehabt: sich nach dem Ende der Expansion zwischen 1945-75 neuzuorganisieren, indem er den gesamten Lohnnebenleistungen direkt angreift, vorallem den der Arbeiter im Westen. Er hat das getan, indem er Massenproduktion in Teile der Dritten Welt ausgelagert hat, durch Automatisierung und dadurch, daß er für eine "sanfte Bruchlandung" beim Niedergang in den fortgeschrittenen Sektoren gesorgt hat. Heute wird, in absoluten Zahlen, ein größeres Volumen des Gesamtproduktes für geringere Auslagen bei der Gesamtheit der Lohnnebenleistungen produziert. Soweit sind die neuen Arbeiterklassen in Asien Teil einer "weltweten Rationalisierungsbewegung": in dem Maße, wie ein gewisser Teil des variablen Kapitals im Westen verschwindet, taucht ein kleiner Teil davon in Asien auf mit einem höheren Netto-Output. Im Grunde handelt es sich daher um eine umfassende Säuberung des alten Decks, um Bedingungen für einen neuen Takeoff wiederherzustellen, der mit dem von 1945-75 vergleichbar ist, allerdings innerhalb eines absteigenden Rahmens, wie er auch schon '45-'75 gegeben war.

Das ist die Theorie. Aber Ihr müßt zugeben, daß sie bestenfalls eine Hypothese ist und daß erst die Zeit zeigen wird, was an ihr dran ist. Wie auch immer, das sind meine Gedanken. Ich würde gerne Eure erfahren.

30.Juli 1997


Die Antwort von Walter Daum

Genosse Goldners weitreichende Frage nach der Epoche des Niedergangs verdient eine ernsthafte Antwort. Das Problem, ob die Geschichte für die imperialistische Epoche ein Ende gefunden hat - sei es durch die Globalisierung der Wirtschaft, den Fall der Sowjetunion, oder das Versäumnis der Arbeiterklasse, auf revolutionäre Art und Weise zu handeln - verdient eine sorgfältige Einschätzung.

Marx hat in einer wohl bekannten und konzentrierten Zusammenfassung seiner Ansichten festgestellt, daß jede Gesellschaftsform in einer Epoche des Niedergangs zu Ende geht, in der "die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen" geraten (K.Marx: Vorwort zu "Zur Kritik der Politischen Ökonomie") Lenin hat dieses Thema weiterentwickelt und spezifiziert, daß die Charakteristiken der Epoche des Niedergangs des Kapitalismus wirtschaftliches Monopol, die Vergesellschaftung der Produktion und imperialistische Beherrschung der Welt seien. Konkret hat er argumentiert, daß der Kapitalismus um die Jahrhundertwende aufgehört habe, ein fortschrittliches System zu sein.

Unser Buch "The Life and Death of Stalinism" erklärt die Theorie der Epoche des Niedergangs in allen Einzelheiten. Sie war am besten von Trotzki 1928 zusammengefaßt worden:

Dem explosiven Charakter dieser neuen Epoche mit ihrem jähen Wechsel der politischen Flut und Ebbe, mit ihrem ständigen, krampfartigen Klassenkampf zwischen dem Faschismus und Kommunismus, liegt jene Tatsache zugrunde, daß das internationale kapitalistische System sich historisch bereits ausgegeben hat und nicht mehr fähig ist, als Ganzes wieder zu steigen. Das bedeutet nicht etwa, daß einzelne Industriezweige und einzelne Länder nicht mehr steigen und nicht mehr wachsen werden. Sie werden das vielleicht in einem unerhörten Tempo tun. Jedoch diese Entwicklung geht vor sich und wird vor sich gehen müssen auf Kosten der Entwicklung anderer Industriezweige und in anderen Ländern." (2)

Die Expansion in Asien in den letzten Jahrzehnten ist nicht die erste Herausforderung für die Theorie, daß der Kapitalismus sich während dieses ganzen Jahrhunderts in seiner Epoche des Niedergangs befunden habe. Die Theorie "sah in der Tat sehr schön aus" bis 1945, nachdem die Welt zwei Weltkriege erlitten hatte, die große Depression und das Hochkommen des faschistischen und des stalinistischen Regimes. Aber der lange Nachkriegsboom sah schon ganz anders aus.

Der Boom wäre nicht möglich gewesen ohne die historische Niederlage, die die Arbeiterklassen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges aus der Hand der Faschisten, der Stalinisten und der imperialistischen "Demokraten" erlitten hatten. In der Sowjetunion war der erste Arbeiterstaat der Welt zerstört worden, die stärkste Kommunistische Partei Europas war in Deutschland ausradiert worden, die proletarische Revolution war in Spanien geschlagen worden und nach dem Krieg waren gewaltigen Kämpfen der Arbeiterklasse mit revolutionärem Potential waren Niederlagen beigebracht worden. Der all dem zugrunde liegende Faktor war der Stalinismus, das Krebsgeschwür innerhalb des sowjetischen Arbeiterstaates und der einst revolutionären Kommunistischen Parteien. Ohne hier anzusetzen, ist es unmöglich, die konterrevolutionäre Wendung zu verstehen, die die Epoche genommen hatte.

Lenin und Trotzki erwarteten einen solchen Boom nicht, aber Trotzki sah die Möglichkeit dazu voraus. Als Trotzki die Bedeutung der Epoche zusammenfasste, formulierte er auch Überlegungen zu der Frage, was geschehen könnte, wenn die proletarische Revolution verzögert oder besiegt würde:

Theoretisch ist natürlich auch ein neues Kapitel eines allgemeinen kapitalistischen Wachstums in den besonders mächtigen, herrschenden und führenden Ländern nicht ausgeschlossen. Dazu müßte jedoch der Kapitalismus erst ungeheure Barrieren sowohl klassenmäßigen als auch internationalen Charakters überwinden. Er müßte für lange Zeit die proletarische Revolution abwürgen, er müßte China endg& $252ltig unterjochen, er müßte die Sowjetunion stürzen usw. Dies alles liegt jedoch nicht auf der Hand." (3)

Die Epoche war schließlich nicht nur die der Revolution, sondern ebenso eine solche der Konterrevolution. 1928 sahen solche Niederlagen, wie Trotzki sie beschrieben hatte, unwahrscheinlich aus, aber die 30er Jahre, die "Mitternacht des Jahrhunderts", lernte sie alle und noch mehr kennen. Der Nachkriegsboom war das Ergebnis, das "neue Kapitel" des kapitalistischen Fortschritts.

Der Boom ist keine neue Epoche

Daß der Boom keine neue Epoche der Prosperität repräsentierte, wurde deutlich, als er in den frühen 70er Jahren endete. Bürgerliche Theoretiker verfielen wieder lautstark in Panik wegen der Gefahr fallender Profite und einer neuen Depression. Die enormen internationalen Schulden von Ländern der Dritten Welt, Osteuropas und selbst einiger imperialistischer Länder bekräftigten die fiktive Natur eines Großteils der Nachkriegs-Prosperität.

Was das Wachstum in der UdSSR anbelangt: Ja, Rußland vor der Revolution war eine imperialistische Macht mit einer industriellen Basis. Aber sie war in der Tat zweitrangig, nicht in der gleichen Liga wie Deutschland, Großbritannien, Frankreich und die USA. Der Aufbau der 20er und 30er Jahre machte das Land zu einer Weltmacht, die die Kriegsmaschine der Nazis besiegte und die zweitstärkste Militärmacht der Welt wurde. Wir sind weiter der Auffassung, daß dieser qualitative Fortschritt ohne die Arbeiterrevolution und die wirtschaftliche Zentralisierung, die diese nach sich zog, nicht möglich gewesen wäre, wenngleich die letzten Überreste von Arbeitermacht in den 30er Jahren zerschmettert wurden. Die stalinistische Konterrevolution nährte sich von den ökonomischen Errungenschaften, während sie gleichzeitig das lebenswichtige Element der revolutionären Bewußtseins der Arbeiter zerschlug. Und das daraus resultierende System des verstaatlichten Kapitalismus wurde durch die Reste der Errungenschaften der Arbeiter behindert, die er noch nicht eliminieren konnte.

Heute, nach der Implosion der "sozialistischen" Regime bleibt die vorherrschende Sichtweise sowohl auf der Rechten wie auch auf Seiten des zynischen Linksradikalismus, daß der Kapitalismus nicht nur triumphiert, sondern auch unschlagbar ist. Dennoch: seine Dekadenz bleibt bestehen. Wie wir in unserer "Politischen Resolution" (1995) geschrieben haben:

Die vermeintliche Neue Weltordnung der von den USA angeführten Stabilität nach dem 'Triumpf des Kapitalismus' erzeugt nur noch höhnisches Gelächter. Die Weltwirtschaft leidet nun schon seit Jahren unter Nullwachstum. Das Proletariat stellt heute über die Hälfte der Weltbevölkerung, aber fast ein Drittel davon ist arbeitslos. Die Kluft zwischen arm und reich, zwischen Ländern und innerhalb derselben wird immer größer. In den USA, dem reichsten Land der Welt, leben zwei Drittel der arbeitenden Menschen an oder unterhalb des Standards, der offiziell als für die Gesundheit, Effektivität, die Ernährung von Kindern und die Teilnahme an Aktivitäten der Gemeinschaft notwendig bezeichnet wird."

Seit damals sind international die Wachstumsraten wieder über Null gestiegen, aber die Beschreibung bleibt trotzdem wahr: für die große Mehrheit der Völker dieser Welt, bietet der Kapitalismus nur eine miserable Existenz. Dekadenz ist ein völlig angemessener Begriff für das System als Ganzes.

Nichtsdestoweniger haben, als der Nachkriegsboom an sein Ende kam, eine Handvoll Länder den bemerkenswerten Spurt wirtschaftlichen Wachstums gemacht, von dem Loren Goldner schreibt. Das geschah nicht nur in Asien. Als in den 70ern die Profit- und Wachstumsraten in wichtigen Industrieländern wie den USA anfingen zu fallen, wurde Investitionskapital in die "Schwellenländer" abgezogen. Die am häufigsten genannten Beispiele waren Brasilien, Mexiko, Süd Korea und Taiwan.

Mexiko z.B. erzielte bis 1980 durchschnittliche Wachstumsraten von über 6 Prozent; die verarbeitende Industrie wuchs von 1960 bis 1980 um fast 8 Prozent jährlich, und die Löhne in diesem Sektor hatten ein Drittel des US-Niveaus erreicht. Dann schlug die erste Nachkriegs-Schuldenkrise zu, und die internationalen Financiers zwangen die herrschende Klasse Mexikos, ihre "revolutionäre" nationalistische und populistische Politik aufzugeben und die Wirtschaft für die "multinationalen" Konzerne des Imperialismus zu öffnen. Das Wachstum brach zusammen, und der Lebensstandard der Arbeiter fiel auf weniger als 10 Prozent des US-Niveaus.

Auch in Brasilien wuchs der Output zwischen 1950 und 1990 um das Achtfache. Aber hier war die Entwicklung notorisch ungleichmäßig; neben riesigem Reichtum gab es einige der ärmsten Lebensbedingungen in der Welt, darunter weitverbreitete Kinderarbeit und sklavereiartige Arbeitsbedingungen. Und unter der "neoliberalen" Regierung Cardoso, die seit 1994 im Amt ist, ist die Zahl der Arbeitsstellen in der Industrie um ein Drittel zurückgegangen und die Arbeitslosigkeit um 40 Prozent gestiegen.

Das Wachsen der asiatischen 'Tiger'

Somit scheinen nur im Falle der asiatischen Schwellenländer - der sogenannten Tiger - Dritte Welt-Länder das Niveau der entwickelten Länder erreicht zu haben. In Taiwan und Süd Korea wuchs der Output von 1950 bis 1990 um mehr als das 15-fache; Süd Koreas jährliche Wachtumsrate von 12 Prozent 1987 und 1988 wurde von keinem anderen Land erreicht. Soziale Indikatoren wie Alphabetisierungsrate, Kindersterblichkeit und Lebenserwartung erreichten in diesen beiden Ländern und in den Stadtstaaten Hongkong und Singapur Erste Welt-Niveau, etwas, was in Mexiko oder Brasilien nie erreicht worden war. Wie paßt das mit der Epoche des Niedergangs zusammen?

Die "Umbildungs"-Lösung, die Gen. Goldner am Ende seines Briefes vorschlägt, ist Teil der Antwort. Aber wir stimmen nicht damit überein, daß die Bemühungen der Kapitalisten, Produktion von West nach Ost zu verlegen, erfolgreich "die Bedingungen für einen neuen Takeoff wiederherstellen" werden. Dafür ist, wie wir schon oft gesagt haben, viel mehr nötig: die Niederschlagung der Weltarbeiterklasse durch Faschismus und Krieg. Gen. Goldner konzentriert sich auf die wirtschaftliche Ebene, aber die Epoche ist nicht einfach eine des wirtschaftlichen Niedergangs. Die politische Ebene von Revolution und Konterrevolution muß gleichfalls untersucht werden.

Zunächst einmal war es niemals Bestandteil der Theorie, daß der Imperialismus eine absolute Barriere für Wachstum darstelle. Soweit wir Lenin verstehen, hat er geglaubt, daß der Kapitalismus in dieser Epoche nicht auf umfassende Weise Fortschritte machen könne: das Wachstum in einem Land oder Sektor würde auf Kosten des Fortschritts anderswo gehen. (das steht im Gegensatz zur vorherigen Epoche der kapitalistischen Fortschrittlichkeit, in der alle Länder, in der der Kapitalismus vorherrschte, weiterkommen konnten.)

Lenin erwartete in der Tat den Abstieg der industrialisierten Hochlohnländer gegenüber den Kolonien. 1916 schrieb er: "Der Kapitalexport beeinflußt in den Ländern, in die er sich ergießt, die kapitalistische Entwicklung, die er außerordentlich beschleunigt. Wenn daher dieser Export bis zu einem gewissen Grade die Entwicklung in den exportierenden Ländern zu hemmen geeignet ist, so kann dies nur um den Preis einer Ausdehnung und Vertiefung der weiteren Entwicklung des Kapitalismus in der ganzen Welt geschehen." (Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus)

Wie Gen. Goldner aber schreibt, hat vom 1. Weltkrieg bis 1975 kein koloniales oder ex-koloniales Land irgendeine größere Entwicklung der kapitalistischen Produktion auf Kosten der reicheren Länder kennengelernt. Dafür trägt Lenin selbst ein hohes Maß an Verantwortung. Nach der russischen Revolution fingen die imperialistischen Mächte an zu zögern, das Risiko größerer Kapitalexporte im notwendigen Ausmaß auf sich zu nehmen, da sie fürchteten, daß die Schaffung eines konzentrierten, machtvollen und militanten Proletariats ihr Eigentum gefährden würde. Lenins zitierte Voraussage wurde in der Tat zu einer ihrer eigenen Erfüllung im Wege stehenden Prophezeiung. Erst im Zuge der Enthauptung des internationalen Proletariats durch den Stalinismus und der langen Erfahrung der Eindämmung von Arbeiterkämpfen, die darauf folgte, waren die Imperialisten willens, der massiven Entwicklung von Schwerindustrie in den Schwellenländern zuzusehen.

Die eindrucksvollsten Schwellenländer sind darüberhinaus jedoch Sonderfälle. (Wir lassen hier Hong Kong und Singapur aus der Diskussion, da sie schon lange bevor die Schwellenländer gestartet sind Handelszentren mit relativ hohem Prokopfeinkommen waren). In der Frontlinie des Kalten Krieges stehend erhielten Taiwan und Süd Korea Milliarden Dollar Wirtschaftshilfe von den USA, vorallem während des Vietnam-Kriegs. Auf diese Weise wurden die gigantischen koreanischen Firmen Daewoo und Hyundai gestartet.

Die Rolle der USA und Japans

Die USA haben auch wohlwollend über Taiwans und Südkoreas Version des Staatskapitalismus hinweggesehen: geschützte Märkte, die staatliche Begrenzung und Kontrolle von ausländischen Investitionen - während gleichzeitig die Weltbank und der IWF darauf bestanden, daß andere "Entwicklungsländer" ihre Ökonomien weit zugunsten des Imperialismus öffneten. In den 60er und 70er Jahren hatte der südkoreanische Staat mehr Kontrolle über Investitions- und Handelsentscheidungen als einige stalinistische Regierungen wie die Ungarns. Taiwan hat eine beträchtliche Zeit lang einen höheren Prozentsatz nationalisierter Industrie als "Rot"-China. Ebenso wie ein selektiver Protektionismus überaus wichtig für das Hochkommen kapitalistischer Mächte wie Deutschland und die USA war, so schuf er auch die Basis für die asiatischen Schwellenländer an der Front des Kalten Krieges.

Ein üblicher Faktor, der zum wirtschaftlichen Takeoff und zur erweiterten Rolle des Staates beitrug, war die Bodenreform. Taiwan und Korea waren beide während des 2. Weltkrieges japanische Kolonien gewesen, und die Niederlage Japans untergrub die Macht der kollaborierenden Großgrundbesitzer. Auch in Taiwan mußten die chinesischen Nationalisten, nachdem sie vor den siegreichen Kommunistischen Armeen vom Festland geflohen waren, die rivalisierende einheimische Klasse der Großgrundbesitzer eliminieren.

Taiwan und Süd Korea wurden auch die wichtigsten Produktionsplätze außerhalb des Archipels, auf denen japanische Kapitalisten billige Arbeitskräfte suchten. Dreißig Jahre lang lieferte Japan Technologie, Maschinen und Einzelteile an seine ehemaligen Kolonien, die wiederum den militärischen und den inneren Markt der USA belieferten. Koreanische Firmen spezialisierten sich auf effiziente Montagetechniken, blieben aber finanziell und technologisch von den Imperialisten abhängig.

Die Kosten dieses Arrangements waren hoch. 1980 wurde Süd Korea zur drittgrößten Schuldnernation der Welt nach Mexico und Brasilien und war in hohem Maße von japanischen Geldern abhängig. Auch die zur Verfügung gestellte Technologie war normalerweise mehrere Jahre hinter dem aktuellen Stand zurück, um koreanische Firmen letztlich daran zu hindern, mit den japanischen und US-amerikanischen "Verbündeten" zu konkurrieren. Trotz seiner Fähigkeit, in bestimmten Bereichen zu konkurrieren, wurde Koreas Entwicklung ernsthaft verzerrt.

Ein qualitativer Wandel?

In den späten 80er Jahren, als Vietnam und China nicht länger als revolutionäre Gefahren betrachtet wurden, mußten Taiwan und Süd Korea nicht mehr von den USA in dem Maße wie zuvor verhätschelt werden. Die USA versuchten ihre Nachteile im Handel wieder wettzumachen und zwangen die beiden Schwellenländer zu "freiwilliger" Zurückhaltung bei Exporten, Zollsenkungen und Währungsanpassungen. Dieses ungastlichere ökonomische Klima zählt mit zu den Gründen für die heutige Krise in Korea. Und es zeigt auch die qualitativen Grenzen der Weiterentwicklung von Ländern der Dritten Welt: man hat ihnen nicht erlaubt, das Stadium wirtschaftlicher Unabhängigkeit zu erreichen. Bei all ihrem Wachstum bei der industriellen Produktion und dem Lebensstandard, bleiben sie doch aus der imperialistischen Bruderschaft ausgeschlossen. Süd Korea spürt heute den Stiefel des Imperialismus im Nacken wie seit Jahren nicht mehr.

Gibt es hier etwas "qualitativ Neues"? Im Fall der koreanischen Gesellschaft, natürlich. Sie hat sich in 30 Jahren von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft entwickelt. Aber im Sinne der Epoche, nein. Für Lenin teilt die imperialistische Epoche die Länder der Welt in imperialistische Mächte und deren Opfer. Ich glaube, man könnte von einem qualitativen Wandel sprechen, wenn "imperialisierte" Nationen auf der Basis ihres eigenen Kapitals aus dieser Kategorie herauswachsen könnten. Aber das ist nicht geschehen, trotz der bemerkenswerten quantitativen Veränderungen in den Schwellenländern. Der heutige imperialistische Schlag gegen sie ist der Beweis.

Während Korea und Taiwan auf ihrem untergeordneten Platz gehalten wurden, ist ein Land in den Nachkriegsjahren durch massive imperialistische Hilfe auf eine höhere Ebene imperialer Partnerschaft gezogen worden - Israel. Es hat einen Lebensstandard, der vollkommen westlich ist, und es hat diesen schon längere Zeit gehabt als die asiatischen Tiger. (Seine Unterdrückung und Überausbeutung arabischer Arbeit ist auch voll und ganz westlich.) Auch Israels Expansion war ein Nebenprodukt des Bedarfs des Imperialismus nach einer verläßlichen Grenzwache, die militärisch und sozial an den Westen, vorallen Dingen an die USA, gebunden ist. Die Rolle des Westens bei der Schaffung dieses imperialistischen Außenpostens ist jedoch so offensichtlich, daß niemand auf den Gedanken kommt, dieses Land als eine Herausforderung für die Theorie der Epoche anzusehen.

Übrigens, wir stimmen mit Gen. Goldner nicht überein, wenn er sagt, daß wir und die Spartacists in Hinblick auf die Frage der Epoche "in gewisser Weise...aus dem selben Teil des Universums kommen". Die "Nichts Neues"-Linie der 'Spartacists' sagt über die asiatischen Schwellenländer Folgenes:

In der Tat hat sich das Kapital schon immer von einem Land zum anderen bewegt, selbst vor der Industrialisierung. Seine Ausdehnung nach Ost- und Südostasien ist einfach als eine dritte Welle der Industrialisierung auf die im späten 18. Jahrhundert einsetzende Industrielle Revolution in England gefolgt, die sich dann ein Jahrhundert später nach Deutschland, den USA und Japan ausgebreitet hat. (Workers Vanguard, 31. October 1997)

Diese Idee einer dritten industriellen Revolution impliziert, daß es durchaus vorstellbar wäre, daß Länder wie Süd Korea, China und selbst Malaysia und Thailand imperialistische Mächte wie Großbritannien, die USA, Deutschland und Japan würden - in dieser Epoche. Das ist "Trotzkismus" von einem anderen Planeten!

Dengs China

China hat eine andere Geschichte als die Schwellenländer, denn es hat die imperialistische Herrschaft durch eine Revolution beseitigt. Die Großgrundbesitzer wurden als Klasse vernichtet und ein gewisses Maß von nationaler Einheit wurde unter einem stalinistischen Wirtschaftsmodell erreicht. Der zuvor von den Imperialisten abgezapfte Mehrwert wurde benutzt, um das Land industriell umzuwandeln. 1952 produzierte die Industrie ungefähr ein Drittel von Chinas Output; zum Ende der Mao-Zeit 1975 hatte sich dieser Anteil verdoppelt. Dieses Wachstum war durch typisch stalinistische Verschwendung gekennzeichnet, durch sinkende Produktivität und Vernachlässigung des Lebensstandards der Massen. Dennoch beruhte das "Wunder", das üblicherweise Deng Xiaoping's Politik der Öffnung des Landes gegenüber dem Privatkapitalismus und ausländischen Investitionen zugeschrieben wird, auf dem Maoismus mit seinem staatlich kontrollierten nationalistischen Aufbau.

Unter Deng versuchte China in mancher Hinsicht, dem südkoreanischen Modell zu folgen, allerdings mit einer Verzögerung von Jahrzehnten. Chinas Kommunistische Partei nahm eine Doktrin "neo-autoritärer" Entwicklung an, die freies Unternehmertum mit autokratischer Herrschaft kombiniert. Für Marxisten wie uns, die wir die Ökonomie von Maos China als die eines auf der Ausbeutung des Proletariats beruhenden verstaatlichten Kapitalismus ansehen, hat Deng's Transformation in Richtung auf eine noch rohere Form des Kapitalismus nichts Überraschendes an sich. In der Tat haben wir den begrenzten Verfall der staatskapitalistischen Ökonomien in Richtung auf den Privakapitalismus schon in den späten 70er Jahren vorausgesehen. Traditionell bürgerliche Waffen wie Massenarbeitslosikeit und zügellose Inflation wurden notwendig, um die Ausbeutung auf Weltklasse-Niveau zu heben.

Chinas Entwicklung gehört zu den ungleichmößigsten in der Welt. Auf der einen Seite gibt es Atomwaffen und große Verbesserungen bei der Ernährung, der Gesundheitsfürsorge, der Hygiene und im Erziehungswesen. Auf der anderen Seite gibt es wachsende und ins Auge springende soziale und wirtschaftliche Ungleichheit (die sogar die in den USA übertrifft) mit Arbeitsbedingungen Dickens'scher Art in "Sonderwirtschaftszonen". Nach der ländlichen Entkollektivierung besteht der größte Teil der chinesischen Bevölkerung aus Menschen, die auf winzigen individuellen Familienhöfen ohne die Vorteile der Mechanisierung arbeiten.

Obwohl wir Chinas Wachstum weder als einen Triumph einer proletarischen Macht hochleben lassen (wie das einige auf der Linken tun) noch als Verdienst des freien Marktes (wie die Werbetrommler des Kapitalismus) war unser Artikel in PR 53 kaum "kleinlich". Er hat die wirtschaftlichen Fortschritte, die sowohl unter Mao als auch unter Deng gemacht worden sind, wohl anerkannt und auf Chinas "schnell wachsende Wirtschaft, die seit 1978 in einer Rate von durchschnittlich 10 Prozent und von 12 Prozent in den 90er Jahren expandiert ist" zusammen mit den Ambitionen von "Chinas herrschender Klasse ..., die geopolitische Vormacht in der Region zu sein" hingewiesen. Wir haben aber auch argumentiert, daß solche Ambitionen durch die Funktionsweise des Imperialismus in dieser Epoche ausgeschlossen sind, und dazu stehen wir.

Es stimmt auch nicht, daß die Spartacists und andere "Arbeiterstaatler" aus dem Schneider sind, weil sie behaupten, daß Chinas Wachstum Ergebnis seines proletarischen Charakters sei. Die schnellsten Wachstumsraten hatten wir in den Jahren der Herrschaft Deng's, als die Merkmale, die sie für sozialistisch halten, sich rapide auflösten. Ihre ist eine zutiefst deformierte Theorie, die noch immer solche Länder wie China und Vietnam als Arbeiterstaaten bezeichnet, deren Rolle auf dem Weltmarkt darin besteht, die am stärksten ausgebeuteten Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen! (Nord Korea ist sogar ein noch schlimmeres Beispiel eines "Arbeiterstaates"; das Land leidet unter einer ernsten Hungersnot und einer zusammenbrechenden Wirtschaft und mußte um internationale Hilfe betteln gehen. Jetzt wandelt es in Nachahmung seines Verbündeten China und der Erniedrigungen der kolonialen Vergangenheit Küstenstädte in "Sonderwirtschaftszonen" um, um ausländisches Kapital anzulocken.)

Chinas viel billigere Arbeit ersetzt jetzt die von Süd Korea und sogar Thailand. Das ist der wahre Grund, weshalb die Hinwendung zum offenen Kapitalismus so von ganzem Herzen von der westlichen Bourgeoisie gepriesen wurde. Sein eindrucksvolles Wachstum fand auf Kosten eines Proletariats statt, das dermaßen überausgebeutet wurde wie wenige andere, das aber zunehmend Zeichen von Unzufriedenheit und Widerstand zeigt. Aber ebenso wie die gegenwärtigen Tiger jetzt vom Imperialismus wieder entthront werden, wird das auch China passieren. Auch dieses Land wird wieder die Zügel angelegt bekommen, nicht nur, wenn es sich als regionale Bedrohung der imperialistischen Herrschaft aufspielt, sondern durch die Profitkrise, der der Kapitalismus überall entgegensieht.

Das Phänomen der Schwellenländer hing grundlegend von der Erbmasse des Nachkriegs-Booms sowie dem Kalten Krieg und der besonderen Rolle an der Grenze, die der Imperialismus Süd Korea und Taiwan zugeteilt hatte, ab. Da diese Faktoren nun historisch der Vergangenheit angehören, sehen sich die Tiger mit einer gesteigerten imperialistischen Gier und zunehmenden imperialistischen Rivalitäten konfrontiert. Die 20-jährige Expansion Chinas und der Schwellenländer kündigt keinen neuen Takeoff an; die Krise von 1997 kündigt vielmehr einen tieferen wirtschaftlichen Niedergang an. Wir können nicht sagen, daß es nicht weitere rückständige Länder geben wird, die ihre Tage in der Sonne erleben werden. Aber ihre Winter werden nicht lange auf sich warten lassen.

Wir haben oft dargelegt, daß die Theorie der permanenten Revolution an die der Epochenfrage gebunden ist. Wir meinen deshalb, daß die Lektion der permanenten Revolution die gleiche bleibt: die Bourgeoisie, gleich ob nationalistisch oder imperialistisch, kann in dieser Epoche die Versprechen der bürgerlich-demokratischen Revolution - nationale Unabhängigkeit und die Freisetzung des Potentials des industriellen und landwirtschaftlichen Wachstums - nicht einlösen. Der wirkliche Fortschritt der überausgebeuteten Länder wird erst als Ergebnis der proletarischen Revolution stattfinden.

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(1) Die 'Spartacist League' in den USA ist die wichtigste Sektion der "Internationalen Kommunistischen Liga" (IKL), der in der BRD die "Spartakist-Arbeiterpartei Deutschlands"(SpAD) angehört. Rückkehr

(2) "Die internationale Revolution und die Kommunistische Internationale" in: "Die 3. Internationale nach Lenin", Dortmund 1977 Rückkehr

(3) ebenda Rückkehr