Erklärung der Kommunistischen Organisation für die Vierte Internationale (KOVI).
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Antwort auf Oleg Shein zu Tschetschenien

Am 2. Februar 2000 wurde im Saschtschita-Informationsbulletin eine Stellungnahme von Oleg Shein (Schejin), dem Mitvorsitzenden der ‘Interregionalen Vereinigung der Arbeitergewerkschaften', "Saschtschita Truda", und Abgeordnetem im russischen Parlament (Duma) über die Lage in und um Tschetschenien veröffentlicht. Wir als revolutionäre Kommunisten müssen aus mehreren Gründen eine Stellungnahme von ihm ernsthaft und kritisch lesen und der Arbeiterklasse gegenüber unsere Meinung darüber sagen: 1. O. Shein ist der einzige Abgeordnete in der Duma, der weder zu einer rechten Partei noch zu einer ex-KPdSU-Partei gehört; 2. Shein und die Saschtschita haben nun schon seit geraumer Zeit eine wichtige Rolle bei verschiedenen wichtigen Kämpfen der Arbeiterklasse gespielt, darunter dem Kampf gegen den Regierungsentwurf eines neuen arbeiterfeindlichen Arbeitsgesetzes sowie jüngst bei dem erfolgreichen Kampf gegen den russischen Gasmonopolkonzern Gazprom der Arbeiter im Werk nahe bei Astrachan; 3. viele Arbeiter sehen in Shein einen Arbeiterführer; und 4. Shein bezeichnet sich als Marxist.

Unserer Meinung nach stellt seine Stellungnahme im Wesentlichen eine Rechtfertigung des russischen Imperialismus dar. Man wird an Lenins Kommentar erinnert, daß, sobald man an einigen ‘Marxisten' kratzt, sofort der großrussische Chauvinist zum Vorschein komme.

Laßt uns nun zum Text der Stellungnahme kommen. Zum Anfang des Dokuments weist Shein ganz richtig darauf hin: "Um irgendeinen Konflikt vom Klassenstandpunkt aus zu untersuchen, ist es notwendig, die soziale Basis des Konflikts und seine Zukunftsperspektiven zu verstehen." Wie aber bringt Shein seinen klassenmäßigen Ansatz zum Ausdruck? Seinem Punkt 1 zufolge, der in einer zufälligen Aufzählung von Staaten besteht, die vom kolonialen Joch befreit wurden (Afghanistan, Iran, Algerien usw.) schließt Shein, daß es unvermeidlich gewesen sei, daß reaktionäre feudale und bürgerliche Kräfte an die Macht gekommen seien. Daraus folgt, daß auf Grund dieser Gefahr die imperialistische Besetzung dieser Länder im wesentlichen gerechtfertigt sei. Von hier bis zum Argument der Imperialisten über ihre "zivilisatorische Mission" in Ländern der "Dritten Welt", die Engels schon in seiner Arbeit "Die britische Herrschaft in Indien" angriff, ist es ein kleiner Schritt. Ebenso lehnen wir Sheins Schlußfolgerungen ab und halten daran fest, daß, was in diesen Ländern geschah, keineswegs unvermeidlich gewesen wäre, wenn die Führung der reaktionären Nationalisten durch proletarische Kräfte mit einer internationalistischen Perspektive herausgefordert worden wäre. Die gleiche Anschauung vertreten wir heute in Bezug auf Tschetschenien.

Sheins Punkte 2 und 3 sind ein Versuch, die Gründe und Bedingungen des russisch-tschetschenischen Konflikts zu erklären und zwar nicht im Lichte sozialer, Klassen- und imperialistischer Widersprüche sowohl weltweit als auch in der Region, sondern basierend nur auf einer subjektiven Analyse der Interaktionen der tschetschenischen Stammesformationen (teips). So schreibt Shein: "Der Tod 1996 von Dudajew, des Oberhaupts eines sehr mächtigen teips, der den Ruf eines gesamtnationalen Führers genoß, stoppte den Prozeß der weiteren Formierung des tschetschenischen Volkes zur Nation." Eine grundlegende marxistische Analyse verbindet allerdings das Problem der Formierung von Nationen nicht mit dem Leben oder Tod des einen oder anderen Stammeshäuptlings, sondern mit dem Prozeß der Schaffung eines einheitlichen integrierten nationalen Marktes und darauf beruhender sozioökonomischer Prozesse. Der Punkt ist der, daß die Wirtschaft Tschetscheniens trotz der dort herrschenden rückständigen Formen gesellschaftlicher Organisation seit Menschengedenken kapitalistisch ist.

In Punkt 5 schreibt Shein: "Beispiele von Kidnapping von Menschen, Viehdiebstahl, Sklaverei und Völkermord an der russisch-sprechenden Bevölkerung und der Opposition überhaupt in Tschetschenien sind in Rußland allgemein bekannt und nicht zu bestreitende Fakten. Das waren keine Ausnahmen, sondern eine Regel des Lebens in Tschetschenien." In diesem Abschnitt übergeht er fleißig die zahlreichen Grausamkeiten des imperialistischen russischen Militärs gegen die Zivilbevölkerung mit Schweigen. Er klingt wie ein amerikanischer Rassist, der die Zahl der von den Schwarzen an Weißen verübten Verbrechen aufbauscht, ohne weder die Verbrechen der Weißen an Schwarzen zu erwähnen noch den bluttriefenden Rassismus gegen die Schwarzen, der die amerikanische Gesellschaft beherrscht. Darüber hinaus schreibt Shein weiter unten in seiner Stellungnahme (Punkt 9): "Nachdem Zehntausende Menschen unter dem Bombenhagel der russischen Armee umgekommen waren, und die Überlebenden auf Jahre wenn nicht Jahrzehnte hinaus weder Arbeit noch einen Platz zum Leben haben werden, ist die Basis für den Haß gegen Rußland als Staat und wahrscheinlich auch gegen die Russen als Volk." Sogar hier, wo er von russischen Untaten spricht, zeigt Shein ebensoviel Sympathie für den Ruf des imperialistischen russischen Staates, wie für dessen Opfer.

Die Opfer von Flächenbombardements und Artilleriebeschuß waren nicht nur Tschetschenen, sondern auch Angehörige anderer Völker der multiethnischen Bevölkerung tschetschenischer und dagestanischer Städte und Dörfer. In Sheins Analyse der Ereignisse in Dagestan hallt die offiziöse bürgerliche russische Propaganda wider, die die Ereignisse als eine primitive Aggression tschetschenischer Banditen darstellt. Was in Wirklichkeit stattfand, war ein komplizierter und dramatischer Konflikt zwischen der offiziellen Macht in Dagestan und Kräften, die für die Selbstbestimmung von Regionen mit überwiegen wahabitischer Bevölkerung eintraten, in denen Bassajew und Chattab (tschetschenische Militärkommandanten) nichts weiter waren als Kräfte, die kamen und sich auf eine der kämpfenden Seiten stellten so wie das auch schon in Abchasien, Nord-Ossetien und anderswo geschehen war.

Die Punkte 7, 8 und 9 von Sheins Stellungnahme beinhalten seine Erklärung der Gründe für Rußlands Aggression gegen Tschetschenien. Shein glaubt, daß die Operation durchgeführt worden sei "mit dem Ziel, für Putins Regierung Popularität zu gewinnen und den Sieg von Jelzins Nachfolger beiden Präsidentschaftswahlen sicherzustellen." Ein anderer Grund war nach Sheins Meinung die Verteidigung der russisch-sprechenden Bevölkerung in Tschetschenien. Unserer Meinung nach hält eine solche Interpretation keiner ernsthaften marxistischen Kritik stand: für Putin Popularität zu erringen, war natürlich oberflächlich ein Ziel der Invasion, während die Verteidigung der russischen Bevölkerung eine hundertprozentige Lüge der Regierung war.

Wir glauben, daß die ausschlaggebenden Gründe für eine jede imperialistische Schlächterei auf der Ebene eines Zusammenstoßen wirtschaftlicher Interessen zu finden sind. Unserer Meinung nach ist der allgemeine Grund für Rußlands Invasion in Tschetschenien die Konkurrenz zwischen den Imperialisten um die Kontrolle über den Transport von Erdöl und Gas vom Kaspischen Meer durch den Kaukasus, der fabelhafte Profite verspricht. Im Zusammenhang damit hat Shein natürlich recht, wenn er in Punkt 10 darauf hinweist, daß die amerikanischen Imperialisten und ihre türkischen Juniorpartner ihre eigenen ernsten Interessen in der Kaukasus-Region haben. Rußlands regionaler Imperialismus jedoch wird, nachdem seine Position bereits in Zentralasien, der Transkaukasus-Region, der baltischen Region und anderswo ernsthaft geschwächt ist so lang wie möglich an Tschetschenien festhalten, um seine strategische Pipeline durch Tschetschenien zu verteidigen und sich gegen verschiedene Versuche wenden, das kaspische Öl und Gas so zu transportieren, daß es an der russischen Kontrolle vorbei geht.

Darüber hinaus muß man feststellen, daß die NATO all und jede imperialistische Unterdrückung einschließlich der durch Rußland unterstützt, und nur in Ausnahmefällen unter extremen Bedingungen imperialistischer Rivalität (die im Kaukasus noch nicht gegeben ist) die Unabhängigkeit für eine unterdrückte Nation wie Tschetschenien unterstützt. Das ist der Grund, weshalb Clintons Kritik an den Angriffen seitens Jelzins, Putins und anderer so verholen war.

Unserer Meinung nach besteht Sheins grundsätzlicher politischer Fehler in seiner engen, national begrenzten und daher falschen Analyse. In einer marxistischen Analyse muß der Ausgangspunkt der Zusammenhang der weltweiten politischen Lage und der interimperialistische Kampf um Einflußsphären und nicht eine isolierte Analyse der Situation nur in Tschetschenien. Der leninistischen Methode folgend muß man von der Tatsache ausgehen, daß die USA die beherrschende imperialistische Macht in der Welt sind und Rußland eine regionale imperialistische Macht ist, Unterdrücker vieler Völker, von denen eines das tschetschenische ist. Hier ist wie nie zuvor das Wort Lenins über Rußland als ein "Gefängnis der Nationen" von vitaler Bedeutung. Und die einzige korrekte Position für Marxisten in der Situation, wie sie nun entstanden ist, darf nicht wie bei Shein eine indirekte Unterstützung für die russische Bourgeoisie sein, sondern die Unterstützung einer wahren Unabhängigkeit Tschetscheniens als Voraussetzung für die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft.

Welche Art von Schlußfolgerung zieht Shein aus seiner "Analyse"? In seinem letzten Punkt, dem Punkt 12 schreibt er: "Linke Organisationen in Rußland müssen meiner Meinung nach den Arbeitern klar machen, daß in Tschetschenien ganz einfach ein Prozeß imperialistischer Umverteilung stattfindet, dessen Geiseln einfache Menschen sind, und daß das tschetschenische Problem keine militärische Lösung hat." Für uns stellt eine solche Position einen völligen Bruch mit dem revolutionären Marxismus dar und eine Kapitulation vor dem Imperialismus. Der Punkt ist, daß der stattfindende Prozeß nichts mit imperialistischer Umverteilung zu tun hat, sondern ein direkter Ausdruck des Kampfes zwischen dem Imperialismus und der Befreiung von diesem ist.

Die grundlegenden Interessen von Maschadow, Bassajew und Chattab haben ohne Zweifel nichts gemein mit den wahren Interessen der tschetschenischen Arbeiter. Die Aufgabe des Proletariats geführt von seiner Vorhut besteht darin, das Banner des nationalen Befreiungskampfes des tschetschenischen Volkes den Händen dieser bürgerlich-fundamentalischen Figuren zu entreißen und den Kampf auf einen revolutionär-proletarischen Kurs zu bringen. Damit das geschehen kann, müssen die tschetschenischen Arbeiter zu dem Verständnis kommen, daß ihr Feind nicht die Russen als Nation sind, sondern der imperialistische Kapitalismus, daß ihre Verbündeten nicht die herrschende tschetschenische Kompradorklasse ist, sondern die Arbeiterklasse Rußlands und der ganzen Welt. Aber das bedeutet, daß die russische Arbeiterklasse eine führende Rolle spielen muß, um die folgenden ausschlaggebenden Aufgaben zu erfüllen: die Organisierung von Massenprotesten gegen die Invasion und für die Verteidigung Tschetscheniens, die Vereinigung mit dem Proletariat und den unterdrückten Schichten der tschetschenischen Massen, Kampf für die Führung im antiimperialistischen Kampf gegen die Putins, Maschadows und Bassajews und bewaffnete Verteidigung Tschetscheniens. Das Proletariat der Ukraine, Kasachstans und anderer Länder der Region kann und muß eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Erfüllung dieser Aufgaben spielen.

Wir sind uns bewußt, daß heute die Mehrheit der Arbeiter in Rußland den nationalen Chauvinismus Putins und Sjuganows teilen. Aber der Teil der Arbeiterklasse in Rußland, der Ukraine und in Kasachstan, der am klassenbewußtesten ist, muß dafür sorgen, daß seine antiimperialistischen, internationalistischen, revolutionär-sozialistischen Ansichten von allen Arbeitern gehört werden, und er muß für diese Ansichten jetzt kämpfen. Nur so werden wir in der Lage sein, zusammen mit der Vertiefung des Klassenkampfes in Rußland und in Tschetschenien immer mehr Arbeiter vom Nationalismus fort für uns zugewinnen.

Und um bei all dem erfolgreich zu sein, bedarf es einer revolutionären Partei der Avantgarde der Arbeiterklasse. Das ist der Grund, weshalb wir die Schaffung einer solchen Partei für absolut notwendig erachten. Die Partei muß für Internationalismus und die sozialistische Revolution und gegen den Nationalismus kämpfen, der heute innerhalb des tschetschenischen Volkes existiert - und, wie uns der "Marxist" Shein gezeigt hat, innerhalb des russischen Proletariats.

Wir fordern deshalb nachdrücklich:

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